Regine Nahrwold am 5. August 2007
Ausstellung: Ereignis Weimar
Ereignis Weimar, die große Ausstellung zum Entstehen der Klassik, strahlt wirklich etwas von dem Genius aus, der in Gestalt einer Entwurfszeichnung von J. H. Meyer programmatisch das ätherische Himmelblau von Plakat und Katalog ziert und damals die Köpfe und Herzen dieser Epoche beflügelt hat. Und zwar – heute kaum mehr vorstellbar! – nicht nur die der Dichter und Denker, nein, auch die der Herrschenden, die selbst dieser Vision lebten: Carl August, geboren 1757, und Anna Amalia, gestorben 1807.
Anders als die Elisabeth-Schau auf der Wartburg kann diese Ausstellung – über die Distanz von nur 250 Jahren – natürlich aus einer ganz anderen Objektfülle schöpfen und diese auch noch im zeitgenössischen Ambiente des Weimarer Schlosses präsentieren. Und das ist so gelungen, dass man zugleich mit den Entwicklungsphasen dieser Epoche die 30 (!) Räume des Schlosses chronologisch durchschreitet – Einheit von Idee und Anschauung im besten Goetheschen Sinne! Kann es ein besseres Beispiel für ein klassizistisches Interieur geben als das reizende Gesellschaftszimmer Maria Pawlownas? Wohl kaum, zumindest nicht, wenn man mitten darin steht! Bei Auswahl der Exponate wurde offenbar die Maxime „Konzentration aufs Wesentlich/Weniger kann Mehr sein“ beherzigt, was der Sache auf das Vortrefflichste zugute kommt; die Präsentation ist klar und übersichtlich, die begleitenden Texte bringen ebenso viel Vergnügen wie Gewinn. In jedem Zimmer ist ein Pavillon von oktogonalem Grundriss und ebenfalls hellblauer Farbe errichtet, ein Raum im Raum, von innen und außen begehbar. Damit ist Hängefläche gewonnen, zugleich eine Abgrenzung zum umgebenden Interieur geschaffen, und man kann eins nach dem anderen mit Muße betrachten.
Ich kann und will es nicht verhehlen: Ich wurde mal wieder von einer heftigen Welle der Goethe-Begeisterung ergriffen und habe auch dank der Ausstellung endlich verstanden, was es mit seiner Entdeckung des Zwischenkieferknochens auf sich hatte; dass dies für ihn der Beweis war, dass Menschen und Tieren einer gemeinsamen (sozusagen Ur-)Wurzel entstammen – für seinen zentralen Gedanken der Mannigfaltigkeit in der Einheit natürlich von immenser Bedeutung! Ein Gedanke, der Goethes Größe ausmacht, zugleich aber auch seine Grenze bedeutet, v.a. für die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, wo das Festhalten an dieser Idee den Blick auf die empirische Wirklichkeit auch verstellt hat. Dieses ganzheitliche Denken wurde ja um 1800 von den Romantikern noch einmal beschworen, aber zu dem Zeitpunkt begannen die Wissenschaften ja bereits, eine Vielfalt auszudifferenzieren, die unter einem Dach nicht mehr zu fassen war (Hegel: Die Eule der Minerva beginnt erst bei Anbruch der Dunkelheit zu fliegen.) Trotzdem frage ich mich oft, was wir heute noch oder wieder von Goethe lernen können für den Umgang mit Komplexität, mit dem Verhältnis von Detail und Ganzem. Können wir etwas von seinem Denken in die heutige Zeit übertragen, nicht nachahmend, sondern – mit Goethe selbst gesprochen – verwandelnd? Denn Nachnahmung mündet natürlich über kurz oder lang in die Erstarrung, dafür ist der Klassizismus ja geradezu das Lehrstück par excellence. Und damit endet auch die Ausstellung: ein Film führt anhand der Hexenszene aus Macbeth exemplarisch die Shakespeare-Inszenierung des Sturm & Drang und des Klassizismus vor. Antikisch verhüllte Hexen, auf Kothurnen, hoheitsvoll in gemessenen Versen (Übertragung von Schiller) deklamierend? Das ist natürlich – um’s mal mit Ingmar Bergmann zu sagen – einfach nur noch „mausetot“ und absolut lächerlich. Aber dem Zitat aus einem Brief Goethes an Carl August vom 26. 11. 1784, das auf die Rückseite des Kataloges gedruckt ist, gibt es nichts hinzuzufügen:
„Man muss Hindernisse wegnehmen, Begriffe aufklären, Beispiele geben, alle Teilhaber zu interessieren suchen, das ist freylich beschwerlicher als befehlen, indessen die einzige Art (…) zum Zwecke zu gelangen, und nicht verändern wollen sondern verändern.“