Regine Nahrwold am 25. August 2007
Literatur: Pascal Mercier, Lea
Im Urlaub „Lea“ von Pascal Mercier zu Ende gelesen (München: Hanser 2007). Es kommt bei weitem nicht an den „Nachtzug nach Lissabon“, erst Recht nicht an „Perlmanns Schweigen“ heran; auch die herben Kritiken in ZEIT und FAZ samt Kitsch- und Klischee-Vorwurf sind leider nicht ganz von der Hand zu weisen, und – noch viel mehr als der „Nachtzug nach Lissabon“ – ist dieses Buch konstruiert. Dennoch scheint auch hier noch Merciers/Bieris ganze Stärke auf: seine Sensibilität für feinste Regungen der menschlichen Seele, deren Vielschichtigkeit er genau zu beobachten, zu schildern und in farbigen Metaphern zu umschreiben versteht: „Wir sind geschichtete Wesen, Wesen voll von Untiefen, mit einer Seele aus unstetem Quecksilber, mit einem Gemüt, dessen Farbe und Form wechselt wie in einem Kaleidoskop, das unablässig geschüttelt wird,“ heißt es im „Nachtzug nach Lissabon“, und in „Lea“:
„Meine Tochter, sie ist ein geschichtetes Wesen; sie besteht aus seelischen Schichten, lebt auf verschiedenen Plateaus, die sie betreten und verlassen kann, und nun hat sie wieder auf dasjenige Plateau zurückgefunden, das lange Zeit leer und unbeleuchtet gewesen war, ein bisschen wie der verlassene Perron eines still gelegten Bahnhofs. Ich betrachtete ihr Mienenspiel, das noch nicht so flüssig war wie früher und in seinem gelegentlichen Stocken die Spuren der vorherigen Erstarrung in sich trug. Und da dachte ich zum ersten Mal einen noch anderes Gedanken, den ich in der kommenden Zeit oft denken und über den ich jedes Mal von neuem erschrecken sollte: Sie hat keine Kontrolle über diesen Wechsel der Schichten, sie führt nicht Regie in diesem Drama; wenn sie ein inneres Plateau betritt oder verläßt, ist das ein pures Geschehen, vergleichbar einer geologischen Umschichtung, hinter der es auch keinen Akteur gibt.“ (S. 211f.)
Auf dem Kongress „Unternehmergeist. Geisteswissenschaften und Wirtschaft“, der vom 23.-25. April in der TU Braunschweig stattfand, hat der Psychologe Friedemann Schulz von Thun den Umgang mit der inneren Pluralität, dem Chor der inneren Stimmen als eine Schlüsselressource unserer Zeit hervorgehoben (und ich füge hinzu: den Umgang mit dem Chor der äußeren Stimmen ist es ebenfalls) „Goethe hatte es noch gut, er hatte nur zwei Stimmen in seiner Brust!“ Das stimmt und stimmt auch wieder nicht: Goethe ist so vielschichtig wie wohl kaum einer, aber taugt seine Idee von der Einheit, die sich in eine Mannigfalt auseinanderlegt, noch für das 21. Jahrhundert? Dieses Modell geht von einer hypotaktischen, klassifizierenden Ordnung aus. Die Paradigmen unserer Zeit aber sind Vielheit und Verschiedenheit, das freie Umeinanderschweben vereinzelter „Elementarteilchen“, die sich hie und da für kürzer oder länger zu einem Cluster zusammenballen; das Netzwerk, in dem jede mit jedem jederzeit kommunizieren kann, alle unterschiedlich und gleichwertig sind und diese Unterschiede respektvoll nebeneinander bestehen bleiben können.