Regine Nahrwold am 26. Februar 2008
Film: Jean Luc Godard
Letzten Sonntag sah ich in der Reihe „Kino und Frauen – Die Widerspenstigen“ des Filmfestvereins Braunschweig Godards „Vivre sa vie“ („Geschichte der Nana S.“). Vor rund 20 Jahren hatte ich ihn schon einmal gesehen, konnte mich aber kaum noch an ihn erinnern. Nun hatte ich zum einen noch „Passion“ im Hinterkopf, der letztes Jahr auf dem Braunschweiger Filmfest lief, zum anderen das große Interview, das die ZEIT im November (Nr. 49, 29. 11. 2007, S. 65/66), anlässlich der Verleihung des Europäischen Filmpreises an Godard, mit ihm führte.
„Man muss sich den anderen hingeben und dabei sich selbst treu bleiben.“ Dieser Aphorismus Montaignes ist „Vivre sa vie“ als Motto vorangestellt. Dann erst setzt die Handlung des Films ein – in 12 Kapiteln, von Godard „Bilder“ genannt.
Nana hat Mann und Kind verlassen, um ihr eigenes Leben zu leben, frei zu sein. Sie träumt davon, Schauspielerin zu werden, also eine Kunst auszuüben, jobbt jedoch als Verkäuferin in einem Plattenladen. Aus Geldnot heraus entschließt sie sich zur Prostitution – also zum Weg in die Unfreiheit? Einmal sagt Nana: „Für alles, was ich tue, bin ich selbst verantwortlich.“ Und (sinngemäß): „Alles ist, was es ist. Ich bin frei, wenn ich in allem das Schöne sehen kann.“ Im Laufe des Films antwortet sie mehrmals auf die Frage nach dem Warum: „C’est comme ça – So ist es halt“. Später wird der Philosoph, dem sie begegnet, sagen: „Man muss sagen, was gesagt werden muss, tun, was getan werden muss – ohne zu verletzen, ohne Anstoß zu erregen.“ Lapidar – wie der Originaltitel des Films: Sein Leben leben. (Schöne Kleinigkeit am Rande: Der Philosoph fragt Nana, ob sie „Die drei Musketiere“ gelesen habe, und sie antwortet: „Nein, aber ich habe den Film gesehen.“)
Godard erzählt seine Geschichten aus einer reflexiven Distanz heraus, ohne den Zuschauer durch Unmittelbarkeit des Erlebens in sie hineinzuziehen. So lässt er uns nicht als Voyeure an Nanas Hurendiensten teilhaben, sondern eine theoretische Abhandlung über Prostitution verlesen und zeigt dazu Großaufnahmen von einigen knappen Handgriffen: Vorhang zuziehen, Bettdecke zurückschlagen, Geldschein hinlegen usw. Distanz schafft Godard, indem er die filmischen Mittel im Erzählen mit reflektiert und sich strukturell auf Literatur und Bildende Kunst, auf Text und Bild bezieht. Diese Verfremdungseffekte sind schon mit Brechts epischem Theater verglichen worden – ein Vergleich, der allerdings nicht sehr weit trägt. Denn Brecht beantwortet die Frage „Was will uns der Dichter damit sagen?“ eher mit dem Holzhammer, sprich: mit der „Moral von der Geschicht“, will den Zuschauer dazu bewegen, Stellung zu beziehen und zu handeln. Godard tut nichts dergleichen, im Gegenteil: Alles, was er erzählt, ist ihm gleich gültig im wahrsten Sinne des Wortes, er fällt kein Urteil darüber. In „Vivre sa vie“ wird das besonders deutlich, da es hier ja – ähnlich wie in „Außer Atem“ – um ein „unmoralisches“ Thema geht. Godard fällt über seine Protagonisten kein moralisches Urteil und legt dies auch dem Zuschauer nicht nahe. Er erzählt, was ist – mit der Brechung durch die Reflexion der stilistischen Mittel.
Denken ist Sprechen, sagt der Philosoph zu Nana. Es gibt die Sprache der Worte. Es gibt die Sprache der Bilder. Und es gibt natürlich die Sprache des Films: Schwarzweiß, Helldunkel, Kamerafahrten und -schwenks, Großaufnahmen, Schnitte, usw. Es gibt Worte ohne Bilder, z.B. die Tableaux, die Godard den 12 Bildern/Kapiteln von „Vivre sa vie“ voranstellt; sie umreißen stichwortartig den Inhalt, wie man es sonst von Romanen kennt. Es gibt Bilder ohne Ton wie die Ausschnitte aus dem Stummfilm „Jeanne d’Arc„, dazu das Gesicht Nanas, die als Zuschauerin im Kino Tränen des Mitgefühl weint; es wird dem Gesicht der weinenden Jeanne gegenübergestellt, die ihr Todesurteil vernimmt, bereit, für ihre Idee zu sterben. Es gibt Bilder ohne Worte, dafür aber mit sehr viel Bewegung, der das Kino ja seinen Namen verdankt: wenn Nana in der Kneipe als verführerischer Vamp um den Billardtisch tanzt oder ein Mann sie mit der Pantomime „Kind bläst Luftballon auf“ erheitert – beides hinreißende Szenen!
In „Passion“ stellt Godard das Medium Film in die Tradition der europäischen Malerei: Der Protagonist, der polnische Regisseur, lässt in „lebenden Bildern“ berühmte Gemälde nachstellen, beginnend mit Rembrandts „Nachtwache“ bis zu Ingres‚ „Türkischem Bad“ und Delacroix‘ „Einzug der Kreuzfahrer in Konstantinopel“. Das Verbindende dabei ist das Licht (1). Auch „Vivre sa vie“ eröffnet, so könnte man sagen, mit einem nachgestellten Bild: Die erste Einstellung zeigt Nana von hinten an einer Bar sitzend; ihr Gesicht sieht man ab und zu in dem glänzenden Spiegel, vor dem die Flaschenbatterien stehen und der Barkeeper geschäftig hin- und hereilt. Das zitiert Manets „Bar aux Folies-Bergère„, berühmt u.a. wegen seiner Spiegelungen/Reflexionen und – wie Godards Film – ein Konstrukt parallel zur Wirklichkeit. (Und an die blasiert-gelangweilte Attitude des Manetschen Barmädchens erinnert Nana, wenn sie Platten verkauft.) Neben Nana sitzt der Mann, den sie verlassen hat. Beide reden miteinander, sehen sich jedoch nicht an, berühren sich nicht, verstehen sich nicht; der Zuschauer sieht abwechselnd entweder ihren oder seinen Rücken. Nana sagt unter anderem, dass sie sterben möchte.
Gegen Ende des Films gibt es eine Szene, da Nana im Flur eines Stundenhotels nacheinander mehrere Türen öffnet, und in jeder sieht man für einen Moment die (Rücken-)Ansicht einer nackten Frau, eingefasst vom Rechteck des Türrahmens wie ein Bild. In dieser Szene fragt Nana eine Freundin: „Sehen wir uns heute abend im Olympia?“ In ihrem Namen schwingt nicht nur der Vorname der Schauspielerin Anna Karina, Godards Frau, mit, sondern natürlich auch der von Emile Zolas Nana. So viele Anspielungen auf das erotische Paris des späten 19. Jahrhunderts, die Epoche der Kurtisanen, Mätressen und tragischen Liebesgeschichten – der Stoff, aus dem die großen französischen Romane gemacht sind!
Aber Liebe und Kunst haben auch eine ökonomische Seite. Jerzy, der polnische Regisseur in „Passion“ prostituiert sich ebenfalls: er braucht für seinen Film dringend Geld und verkauft sich, nachdem er Hollywood brüsk angelehnt hat, am Ende an einen italienischen Produzenten. Parallel zu seinem Filmprojekt streiken in der Fabrik die Arbeiterinnen, die als Statisten mitwirken. Über die Frage des Geldes sind Kunst und Leben miteinander verwoben. Und über die Liebe, natürlich. Jerzy sagt einmal (sinngemäß): Nur, was man vorher erlebt hat, kann zu Kunst werden. Nana findet die Liebe gegen Ende des Films bei jenem jungen Mann, der ihr aus einer Geschichte Edgar Allan Poes vorliest: ein Maler malt ein Frauenportrait, und je näher es der Vollendung kommt, desto schwächer wird das Modell; es stirbt in dem Moment, da er den letzten Pinselstrich setzt. Godard „malt“ das Portrait Anna Karinas an dieser Stelle so, wie in der Geschichte beschrieben: an den Haarspitzen verschmelzend mit dem dunklen Grund. Kurz darauf wird Nana von ihrem Zuhälter verkauft und findet bei der Übergabe – wegen des Geldes kommt es zu einer Schießerei – den Tod.
(1) Aus dem erwähnten Interview:
ZEIT: „Kino“ haben Sie einmal gesagt, „heißt geben, aber davor muss man empfangen.“
Godard: Das ist, glaube ich, der Unterschied zum Digitalen. Als die Fotografie erfunden wurde, ging es um einen technischen Vorgang, bei dem das Material Licht empfing. Im Kino kann der Projektor dieses Licht zurückgeben. Heute wird nichts mehr empfangen, sondern nur noch eingefangen. Bei der digitalen Technik spricht man im Französischen ja auch von capteur, Aufnehmer. Die Oberfläche des Bildschirms ist an jedem Punkt gleich, man könnte auch von der Demokratie der Pixel sprechen. Dieses Bild ist sehr glatt und kompakt. Das ist verführerisch, denn von Anfang an hat man im Kino nach diesem gleichmäßigen Licht gesucht. So wie im Fernsehen, wo die Moderatoren keinen Schatten haben. Alles soll gleichermaßen hell sein. Aber das Leben rächt sich, denn man sieht, dass es im Fernsehen falsch repräsentiert wird, weil nicht immer und überall das gleiche Licht herrschen kann.
(…)
Ich will mich gar nicht über das Gegenwartskino beklagen. Ich sage nur, dass die meisten Regisseure (…) die Kamera nur benutzen, um selbst zu existieren. Sie benutzen sie nicht, um etwas zu sehen, was man ohne Kamera nicht sieht. So wie ein Wissenschaftler manche Dinge nicht ohne Mikroskop erkennen kann. Oder der Astronom manche Sterne nicht ohne Teleskop.