Regine Nahrwold am 2. April 2008
Aischylos‘ Perser: Schlachtengemetzel
„Kriege entstehen aus dem Scheitern,
das Menschsein der Anderen zu verstehen.“
Der Dalai Lama
Erstaunlich sind zwei Besonderheiten dieses Schauspiels, das „heute als das älteste vollständig erhaltene Werk der attischen Tragiker angesehen werden muss“ (Emil Staiger im Nachwort zu seiner Übersetzung von „Die Perser“, Reclams Universalbibliothek 510, Stuttgart 2005, S. 95): Zum einen schildert Aischylos den Krieg und die verlorene Schlacht aus der Perspektive des Verlierers, versetzt sich also in den geschlagenen Feind, seine Verluste, sein Leid, seine Kränkung hinein. Das ist einfühlsam und von menschlicher Größe, sagt er damit doch nichts anderes als „Die Tränen der Mütter sind überall salzig“ (Wolf Biermann). Natürlich ist dies auch ein Kunstgriff, mit dem Aischylos den Sieg der zahlenmäßig weit unterlegenen Griechen umso größer erscheinen lässt. Aber er scheint sich auch – so Emil Staiger – „um die persische Kultur und Geschichte gekümmert zu haben. Unter den Namen von persischen Königen und Heerführern, die so prunkvoll vorüberrauschen, sind viele historisch. Es fällt dabei auf, dass auf griechischer Seite gar keine Namen angeführt werden.“ (Ebd., S. 96) Nicht einmal Themistokles, der für den Sieg von entscheidender Bedeutung war, wird namentlich erwähnt. (Bemerkenswert: Wie Odysseus in der Ilias, wenden auch hier die Griechen durch eine List das Kriegsgeschehen zu ihren Gunsten.) Staiger nimmt dies „als Zeugnis der demokratischen Gesinnung des Atheners, die nirgends so eindrucksvoll wie gerade in dieser Barbarentragödie zutage tritt“. (Ebd. S. 96)
Zum anderen macht Aischylos – das zeigt bereits der Titel an – den Chor und damit das Volk der Perser zur Hauptperson, sicher ein weiteres Zeugnis seiner demokratischen Gesinnung. Der Chor der in der Stadt Susa zurückgebliebenen Alten schildert eingangs den Heerzug und die Größe des persischen Heers. Ausdehnung, Pracht und Herrlichkeit des persischen Reiches, Macht und Gewalt König Xerxes‚ werden mit rhetorischen „Pathosformeln“ beschworen. Doch sind diese Gesänge bereits von düsteren Ahnungen durchwoben, die dann der Auftritt der Königin Atossa noch verstärkt: Sie beschreibt einen Traum und ein Erlebnis, beide geben zu den schlimmsten Befürchtungen Anlass. Das Erscheinen des Boten, der die völlige Vernichtung des persischen Heeres meldet, lässt diese zur Gewissheit werden. Hier ein Ausschnitt seines Berichts:
Zunächst nun hielt der Strom des Perserheers
Dagegen, wie aber die Menge der Schiffe in Engen
Sich drängte, war Hilfe ihnen einander nicht gewärtig
Selber wurden sie von selbst mit erzspornigen Stößen
Getroffen, zerschmetterten das ganze Ruderwerk
Die griechischen Schiffe aber, nicht unüberlegt
Trieben im Kreis, es kehrten sich um
Die Bäuche der Schiffe, das Meer
War nicht mehr zu sehen mit Schiffs-
trümmernd sich füllend und dem Mord von Männern.
Die Küsten von Toten und auch die Felsenklippen füllten sich
In ungeordneter Flucht ein jedes Schiff
Ruderte, soviel da waren des Barbarenheers.
Die aber wie Thunfische oder irgend einen
Klumpen von Fischen mit Stößen und Verwundungen der Trümmer
Schlugen, zerbrachen sie, Jammern zugleich
Mit Wehgeschrei erfasste die Meeressalzflut
Bis der schwarzen Nacht Auge es wegnahm.
Der Leiden Fülle auch nicht wenn zehn Tage lang
Ich das erzählte nach der Reihe
Würde ich dir die ausfüllen.
Denn wisse auch das gut, niemals an einem einzigen Tag
Ist eine Menge, eine so großzählige, von Menschen gestorben.
Sicher waren es zehntausende von Toten, mit denen da am Ende des Tages das Meer gefüllt, die Küsten und Klippen übersät waren, abgestochen wie Fische und zu Klumpen geballt – ein grauenhaftes Gemetzel! Was wissen wir davon, wenn wir leichthin „Seeschlacht bei Salamis“ sagen oder auch „Völkerschlacht bei Leipzig“, „Stalingrad“, „Pearl Harbour“? Was Kriegsgeschehen für den einzelnen Soldaten bedeutet, hat Ken Burns in „The War“ anschaulich gemacht, seiner 14stündigen Dokumentation über den Zweiten Weltkrieg, die vom 5. 3. bis 16. 4. jeden Mittwoch um 21 Uhr auf ARTE gezeigt wird. Ihm ist es ganz hervorragend gelungen, die Wechselwirkung zwischen dem Gang des Krieges, der „großen“ Geschichte und dem individuellen, „kleinen“ Einzelschicksal zu zeigen, beides gewissermaßen ineinander zu blenden. Ein individuelles Einzelschicksal in diesem Sinne, das von einem denkenden, fühlenden, handelnden Subjekt durchlitten wird, gibt es bei Aischylos noch nicht. Die vier Solisten, die er auftreten lässt, haben die Anlage zur Individualität, aber diese ist noch nicht voll entfaltet; sie erscheinen noch als Verkörperung eines übergeordneten abstrakten Prinzips wie Volk, Herrschertum, Macht, Gottheit.