Regine Nahrwold am 2. Juni 2008
Aischylos‘ Perser: Danke, Claudia!
Liebe Claudia Bosse,
heute, vier Tage vor der Premiere, möchte ich Dir endlich mal danken. Das wollte ich schon vor einer Woche getan haben, nachdem wir zum allerersten Mal das komplette Stück in einem „Rutsch“, ohne Unterbrechung, geschafft hatten. Denn da ist für mich ein echtes Wunder geschehen: Noch vor der Probenpause hatte ich gedacht: „Hilf der Himmel – wie soll ich mir nur all diese verflixten Bewegungen merken? Wann und auf welches Stichwort ich wie schnell oder wie langsam wohin gehen, mich drehen und welchen Text ich dabei sprechen soll?“ Mein Kopf konnte es sich einfach nicht vorstellen. Und dann, während des Ablauf, entstand sie plötzlich, jene geheimnisvolle Dynamik, die das Ganze trägt! Das ist der helle Wahnsinn: Es funktioniert! Jeder ist voll konzentriert und gibt sein Bestes. Die Umsichtigen, Besonnenen bremsen und korrigieren diejenigen, die allzu schnell vorpreschen. Die Starken, Sicheren ziehen die Schwächeren, Unsicheren mit, spornen an und geben Halt, allen voran die vier Protagonisten (wenn sie nicht „dran“ sind, sind sie im Chor mit dabei) und die zehn Chorführer, die uns auch trainiert haben. Seit Monaten arbeiten sie wie die Berserker. In den Proben und Aufführungen sprechen und artikulieren sie wie tausend Teufel, sind gespannt wie die Flitzebogen und bilden so die Stützpfeiler des Gesamten, die energetischen Knotenpunkte des Kraftfeldes, die Epizentren des archaischen Bebens, das sich in konzentrischen Ringen ausbreitet, bis ins Publikum hinein. Vielen Dank hiermit auch Euch: Roland Bedrich, Marion Bordat, Anne Cathrin Buhtz, Inga Kolbeinsson, Hanna Legatis, Christoph Linder, Oliver Losehand, Christiane Ostermayer, Jörg Petzold, Ilona Christina Schulz, Christine Standfest, Katja Thiele, Doris Uhlich, Cornelia Windmüller. Und danke auch Euch, Ihr Choreuten alle, die Ihr Euch mit mir bewegt und mich bewegt!
Das Konzentrat meiner „Perser“-Erfahrung bringt niemand besser auf den Punkt als Aristoteles: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“. Und – so könnte man fortsetzen – macht jene geheimnisvolle Qualität aus, die sich in keinem der heute gängigen Schemata, mit Kategorien zum Abhaken, erfassen lässt (soviel nur am Rande zum Thema Qualitätsmanagement in Kultureinrichtungen). Das zu erfahren, erlebe ich als großes Glück: Ich selbst und gleichzeitig Teil dieses Ganzen zu sein, das mich trägt und das ich mittrage. Zur atmenden Menge zu gehören, die sprechend und bewegend Raum und Zeit erzeugt, mich aber niemals verschmelzend in sie hinein aufzulösen, sondern – im Gegenteil – jederzeit selbst-bewusst, selbst-verantwortlich zu sein und gerade dadurch das Ergebnis mitzuprägen. Zu erfahren, welche Kraft entsteht, wenn viele Menschen aus freien Stücken an eine gute Idee glauben und bereit sind, für sie eine große Anstrengung auf sich zu nehmen; wenn sie etwas von ihrer Strahlkraft annehmen und weiterleiten, weil sie selbst zu strahlen beginnen. Die Belohnung: Im Tun das Glück des „Flow“, der völligen Konzentration, und – weit über diesem Moment hinaus – der Stolz darauf, etwas Außergewöhnliches geleistet zu haben, ein Stück über sich hinausgewachsen zu sein. Das wird bleiben fürs Leben.
Liebe Claudia, durch die Art, wie Du uns führst, zeigst Du, wie es gehen kann: Mit großer Präsenz und Klarheit, mit entschiedenen, direkten Anweisungen („Ihr müsst ADRESSIEREN! Sucht Euch einen Punkt im Raum, an den Ihr die Worte schickt, geradewegs durch die dazwischen stehenden Körper hindurch!“ Oder: „Es ist absolut verboten, sich nach dem Aufstehen zurechtzuruckeln und an den Klamotten herumzuzupfen!“ Oder: „Das sind die falschen Schuhe.“ Oder: „Jetzt war’s schon ziemlich gut!“) und indem Du es immer und immer wieder vormachst – bestimmt, aber freundlich, mit Humor und immer sehr authentisch. Ohne Zwang und Angstmacherei nimmst Du uns mit und lässt jedem den Freiraum, Deine Vorgaben nach seinem Maß, nach seinen Kräften auszufüllen.
Jedem einzelnen Menschen, jedem demokratischen Gemeinwesen, jeder Organisation wünsche ich diese Erfahrung. Ich danke Dir, dass Du sie mir ermöglichst.
Musik und Film, Tanz und Theater sind Künste in der Zeit. Mehr als alle anderen können sie – Paradox! – Zeit aussetzen. Groß, wenn das gelingt, denn Aussetzen von Zeit, das ist – Glück. Dieses Glück ist selbst vergänglich, ist nur im Augenblick und verfließt mit ihm. Man kann es nicht festhalten. Ich hoffe aber, ich kann einen Funken davon in mir bewahren und hineintragen in mein Leben, meine Begegnungen und meine Arbeit mit Menschen.