Regine Nahrwold am 10. November 2008
22. Internationales Filmfest Braunschweig: Macht, Machos, Misstrauen
Wie jedes Jahr habe ich letzte Woche in vollen Zügen das Internationale Filmfest Braunschweig genossen: Was gibt es Schöneres, als an einem trüben Novembertag bereits nachmittags im Dunkel des Kinosaals in einem weichen Sessel zu versinken, sich den bewegten/bewegenden Bildern hinzugeben, den Geschichten vom Leben, Lieben, Leiden anderer, in denen wir uns selbst, unser eigenes Schicksal gespiegelt sehen? Ich gönne mir einmal im Jahr diese Woche als eine Art mentalen Urlaub, als eine – kontrollierte!!! – Flucht aus der Realität, die ich mir sonst nur äußerst selten gestatte. (Schließlich weiß ich nur zu gut, wie einen so etwas total aufsaugen und verschlingen kann!) Von den 160 Filmen des Festivals habe ich in 6 Tagen 15 angeschaut. Hier ein erster Rückblick auf die Highlights meines ganz persönlichen Kinoprogramms:
In Concrete Romance (Italien, Regie: Marco Martani) und Three Monkeys (Türkei, Regie: Nuri Bilge Ceylan) bildet beide Male eine maskulin dominierte Gesellschaft den Nährboden für die Handlung, eine Gesellschaft, in der Druck und Schuld von oben nach unten weitergereicht werden, in der Frauen definiert sind durch die männlichen Projektionen: verehrt und beschützt als „heilige“ Mutter/Schwester/Ehefrau, ausgebeutet als Hure und Objekt egoistischer Begierden. „Concrete Romance“ zeigt auf beeindruckende Weise, wie sehr eine Gesellschaft bis in den Alltag hinein von Härte und Gewalt durchtränkt sein kann, und dass bereits kleinste Anfänge genügen, um in deren Mahlstrom zu geraten. Zum Beispiel das wütende Abtreten sämtlicher Außenspiegel einer langen, im Stau stehenden Autoschlange, die man als Vespafahrer unbedingt rechts überholen muss. Leider ist ein „falscher“ Wagen dabei, nämlich der jenes Bauunternehmers und Mafiosos, der in diesem Vorort von Rom in „Stahlbeton“ – „Cemento armato“ ist der Originaltitel des Films – seine Schreckensherrschaft errichtet hat und sich im folgenden an dem jungen Übeltäter (hinreißend schön und rebellisch: Nicolas Vaporidis!) auf das Brutalste rächen wird. Ein Zweikampf entbrennt, der sich über die Vergewaltigung der Freundin des Protagonisten und die Ermordung seiner Mutter immer weiter hochschaukelt, bis zur Entdeckung einer schrecklichen Wahrheit und zu einem desaströsen Showdown. Ein toller Thriller – für meinen Geschmack zwar ein bisschen zu gestylt, um bis unter die Haut zu gehen, aber superspannende Unterhaltung und darüber hinaus der diesjährige Gewinner des Publikumspreises Der Heinrich. Gratulazione, Marco Martani!
Unter die Haut geht umso mehr Three Monkeys. In überaus kunstvollen – aber nie gekünstelten – Bildern, aus denen fast alle Farbe entwichen ist, erzählt Nuri Bilge Ceylan sehr langsam die Geschichte einer Familie, deren Mitglieder einander mehr und mehr entfremdet sind und sich umso stärker aneinanderklammern. Der Vater, Chauffeur eines bekannten Politikers, lässt sich dazu überreden, gegen Geld für seinen Chef die Schuld an einem Autounfall mit Todesfolge und die sechsmonatige Gefängnisstrafe dafür auf sich zu nehmen. Mit eben diesem Chef beginnt die Mutter, die sich nach Liebe sehnt, während der Abwesenheit ihres Mannes ein Verhältnis. Der etwa 18jährige Sohn hängt nach einem vermasselten Examen depressiv, tatenlos, schweigsam zu Haus oder mit Freunden herum. Die Mutter hat Angst hat, er könnte sozial „abrutschen“, und ermöglicht ihm mit den finanziellen Zuwendungen aus ihrer Liebschaft den Kauf eines Autos; so kann er den Job annehmen, den er sich wünscht. Durch einen Zufall entdeckt er ihr Verhältnis und bringt den Liebhaber um, nachdem er heimlich mit angesehen hat, wie dieser seine Mutter demütigte (und die sich selbst vor ihm: für den Geliebten nur noch lästig und eine gefährliche Bedrohung seiner bürgerlichen Existenz, flehte sie ihn dennoch auf Knien an, sie nicht zu verlassen). Der Vater, aus dem Gefängnis zurückgekehrt, entdeckt die Wahrheit und findet den „Ausweg“: einen armen Schlucker aus seinem Bekanntenkreis überredet er, gegen Geld die Tat seines Sohnes auf sich zu nehmen und für ihn in den Knast zu gehen.
Mehr noch als in „Concrete Romance“ spielt „Three Monkeys“ in einer beklemmenden Sphäre von Sprachlosigkeit und Schweigen, die die verzweifelten Versuche der Frauen, ihre Männer und Söhne zum Reden – und Zuhören! – zu bringen, im Keim erstickt. Das Klima, in dem die Figuren zu erstarren drohen, ist geprägt von Abhängigkeiten, von unausgesprochener Schuld und von Unsichtbarem. (Wunderbarerweise bleibt auch der Sex zwischen der Mutter und ihrem Liebhaber unsichtbar; als Andeutung genügt das leise, vertrauliche Flüstern und Lachen der beiden, das der Sohn vor der verschlossenen Schlafzimmertür belauscht.) Und einen unsichtbaren fünften Mitspieler gibt es in diesem Drama, dessen schönste Szene ein Traum des Sohnes ist: einschlafend nimmt er das verschwimmende Bild der Wohnung mit in den Schlaf. Und aus deren Tiefe kommt allmählich eine kleine Gestalt auf ihn zu, steht schließlich als tropfnasser Junge vor seinem Bett. Dann: Schnitt und Zeitsprung in den Tag, da der Sohn den Vater aus dem Gefängnis abholt; wir erfahren, dass der Junge ein früh ertrunkener Bruder ist: Das Kind aus dem Meer – ein tröstender Seelenführer…
Beiden Filmen gemeinsam ist übrigens ein dezentraler Blick auf Hauptstädte jenseits jeden Touristen-Klischees, aus der Perspektive der „Suburbians“: ein Rom, zubetoniert mit harten, hektischen, lauten Stadtautobahnen und eine bescheidene Dreizimmerwohnung in einem seltsamen, irgendwie übrig gebliebenen kleinen Mehrfamilienhaus am Rande Istanbuls, mit einer Eisenbahnlinie dahinter und einer Dachterasse, von der man aufs unendliche, graue Meer sehen kann. Immer wieder gibt es in „Three Monkeys“ den Blick aufs Meer – ein Sammelbecken unerfüllter Sehnsüchte, genau wie der sentimentale Schlager, der laut und penetrant aus dem Handy der Mutter erschallt und sich partout nicht zum Verstummen bringen lässt.
Den „Heinrich“ hätte ich selbst am meisten dem filmischen Kammerspiel Me, the Other (Italien, Regie: Mohsen Melliti) gewünscht. Raoul Bova und Giovanni Matturato spielen grandios zwei Fischer auf ihrem Boot, von denen der eine, der Italiener, seinen tunesischen Freund aufgrund einer Radiomeldung immer stärker verdächtigt, ein islamistischer Terrorist zu sein. Dieses Drama spielt sich auf dem Mittelmeer vor Sizilien, auf engsten Raum und unablässig schwankendem Boden ab und ist hochspannend, aber eben auch noch viel mehr. In den Gesprächen über die Preise für Fisch, ihren Abnehmer, den ausbleibenden Fang etc. zeichnet sich der wirtschaftliche Druck ab, unter dem diese Männer ihren Lebensunterhalt verdienen. Zudem gibt es durchaus ein Machtgefälle zwischen ihnen, denn der Italiener führt das Kommando und lässt an seinem Freund viel eigene Unzufriedenheit aus; der Tunesier, der aus Not seine Heimat verlassen hat, verrichtet die „niederen“ Dienste wie Netzaufwickeln und Kochen. Mit der Zeit – die Handlung spielt an einem einzigen Tag – lassen wachsendes Misstrauen und gegenseitiges Sich-Belauern ein bedrohliches Aggressionspotential entstehen. Erst als die beiden die Leiche einer Muslimin bergen, die wohl von einem Flüchtlingsboot über Bord „ging“, kommt es zu einem Wechsel der Gemüts- und Tonlage: Bis dahin waren Frauen nur indirekt, in den Gesprächen der zwei Männer anwesend, als ihre Ehefrauen oder als Huren. Mit der Anwesenheit dieser toten Frau und Mutter – ihre Hand umklammert das Foto eines Kindes – kommen für einen Moment Mitgefühl, Trauer, Weichheit, eine fast zärtliche „Schwäche“ auf. Doch schon bald wird die Tote zum Anlass für einen neuen Streit, ein Mord geschieht, der in seiner tragischen Größe dem biblischen Brudermord Kains an Abel gleichkommt. (Und wie Mohsen Melliti nach der Vorstellung erzählte, ist genau dieser das Thema des schönen arabischen Liedes, das zum Schluss erklingt.)