Regine Nahrwold am 18. November 2008
22. Internationales Filmfest Braunschweig: geweint / nicht geweint
„Es wäre doch schön, wenn jeder Filmfestbesucher wenigstens einmal im Kino geweint hat!“ So der künstlerische Leiter des Festivals, Volker Kufahl, in seiner Rede auf der Preisverleihungs-Gala. Was mich anlangt, ist dieser Wunsch voll und ganz in Erfüllung gegangen: Ich habe dieses Mal fast ausschließlich meinem Faible für traurige und dramatische Geschichten gefrönt und hatte somit – mal abgesehen von Baltasar Kormákurs White Night Wedding, einem melancholisch-heiterer Film, der unter den weiten Himmeln der isländischen Mittsommernacht spielt – wirklich nichts zu lachen!
Geweint habe ich in Die Ewigkeit und einen Tag von Theo Angelopoulos, in Das Reich und die Herrlichkeit, Michael Winterbottom’s großartiger freier Adaption von Thomas Hardy’s Erzählung The Mayor of Casterbridge, in Stilles Licht des mexikanischen Regisseurs Carlos Reygadas und in It’s a free World von Ken Loach.
„It’s a free World“ ist die Geschichte von Angie, einer jungen Frau, die ihren Job als Personal Recruiter bei einer Leiharbeitsfirma verliert und sich daraufhin in dieser Branche selbständig macht, mit dem eisernen Willen, so schnell wie möglich das Maximum an Profit zu erzielen. Einmal mehr erweist sich Ken Loach als ein ebenso glänzender wie gnadenloser Kritiker des kapitalistischen Systems und absoluter Meister des Realismus. Durch seine Methode, die Schauspieler die Dialoge aus ihren Rollen selbst entwickeln zu lassen, erreicht er ein Maß an Authentizität, dass man streckenweise einen Dokumentarfilm zu sehen glaubt. Und doch ist dieser Realismus niemals Selbstzweck: Loach schafft es, seinen genau beobachteten und absolut treffenden Schilderungen der brutalen Wirklichkeit immer noch eine metaphorische Ebene zu hinterlegen. Sein „Engel“ ist in schwarzem Leder im Dauerstress auf dem Motorrad unterwegs, um unter den Londoner Migranten und Asylbewerbern aus Osteuropa, dem Nahen Osten, Iran, Irak immer billigere Arbeiter zu finden, um neue Aufträge zu kriegen und die Probleme (mit den Arbeitsverweigerern!) auf den Baustellen zu beheben: Angie mit dem zotteligen, dunklen, auf Marilyn-Blond getrimmten Haar; Angie, die Mutter eines 9jährigen Sohnes, der bei ihren Eltern aufwächst und in der Schule immer wieder durch aggressive Attacken gegen Mitschüler auffällt; Angie, die die Männer, die sie ausbeutet, auch noch für ihre sexuelle Befriedigung benutzt; Angie, die immer wieder sagt „Ok, nur noch dieses eine Ding, dann höre ich auf“, um dann doch weiter zu machen und sich immer gieriger immer tiefer in die Illegalität zu verstricken. Dabei gibt es viele Momente des Innehaltens, jeder eine Gelegenheit, Schluss zu machen mit dem schmutzigen Geschäft: Gespräche mit den besorgten Eltern und Lehrern ihres Sohnes, der doch „nur“ ihre Anwesenheit und Liebe will; die Skrupel ihrer Mitarbeiterin und die Warnungen derer, die schon viel, viel tiefer drin stecken; die politisch verfolgte iranische Familie, deren Schicksal ihr zu Herzen geht; und schließlich ihr Liebhaber, ein aufrichtiger, junger Pole. Ihr Geldgeschenk zum Abschied will er nicht haben: „In Polen sagen wir: Gib einen Gefallen niemals zurück, gib ihn weiter. Man kann nicht alles mit Geld bezahlen.“ Aber Angie macht weiter – solange, bis sie erntet, was sie gesät hat und sich der Kreislauf von Ausbeutung, Schuld und Schulden bei ihr selbst schließt und es kein Zurück mehr gibt… Wenn man das liest, mag vieles kitschig und klischeehaft klingen, aber genau das ist es nicht, und dafür bewundere ich Ken Loach zutiefst: Er ist absolut unsentimental. Wofür er einem die Augen öffnet, das ist die Wirklichkeit und die Wahrheit, und die ist eben – zum Weinen (und zum wütend Werden!)
Ganz und gar nicht weinen konnte ich hingegen in Der fremde Sohn, dem mit Spannung erwarteten neuen Werk von Clint Eastwood. (Die Deutschlandpremiere dieses Films, der erst nächstes Jahr in die Kinos kommt, war nur eins der ganz großen Highlight des Festivals!) Angelina Jolie spielt in diesem, auf einer wahren Begebenheit beruhenden Film sehr eindrucksvoll eine Mutter im Los Angeles der 20er Jahre, deren Kind spurlos verschwindet. Die durch und durch korrupte Polizei der Stadt, die unbedingt einen Fahndungserfolg braucht, präsentiert ihr als wiedergefundenen Sohn einen Jungen, den sie nie zuvor gesehen hat. Tapfer kämpft sie gegen die Willkür der Behörden und die Mühlen der Psychiatrie, unterstützt von einem Reverend, der sich dem Ziel, Licht ins Dunkel dieser üblen Machenschaften zu bringen, mit Haut und Haar verschrieben hat (John Malkovich). Die Aufdeckung eines grausamen Massenmordes bringt schließlich zwar nicht die Lösung, aber doch eine Wende…
Wenn man sich klarmacht, dass dies alles vor noch nicht einmal 100 Jahren geschehen ist in dem Land, dem wir die Deklaration der Menschenrechte verdanken – welch ein Stoff! Und wie wurde er – in meinen Augen jedenfalls – verschenkt! Was daraus wurde, ist ein sehr aufwendiger, opulent ausgestatteter, über weite Strecken sehr schön anzusehender und nach den Maßstäben Amerikas und Hollywoods bestimmt ein ganz hervorragender Film. Und trotzdem kann ich ihn nicht wirklich gut finden. Zwar gefällt mir, wie Eastwood die Geschichte in die Zeit der Entstehung der modernen Massenmedien und Kommunikationsmittel eingebettet hat – der Druck der tatsächlichen oder vermeintlichen Öffentlichkeit via Presse, Telefon, Rundfunk ist quasi das Treibmittel, das die Story erst richtig zum Gären bringt – aber mir ist er in vielem zu platt und plump, zu klischeehaft, zu durch“gestylt“, um wirklich zu berühren. Im wirklichen Leben steigt keine Frau morgens mit perfekt onduliertem Haar aus dem Bett, und kein Visagist verpasst einer abgrundtief verzweifelten Mutter tagtäglich einen makellos blutrot geschminkten Mund. Auch in einer modernen Großstadt Amerikas tragen nicht alle Menschen modische, neue Kleidung, sind nicht alle Wohnungen von Innenarchitekten mit dem neuesten Mobiliar eingerichtet, sieht man nur Weiße auf den Straßen. Bei einer Demonstration haben nicht alle das gleiche (selbst gemalte) Schild in der Hand. Wenn sich von einem Tag auf den anderen plötzlich die Tore einer psychiatrischen Klinik öffnen, um Patienten in die Freiheit zu entlassen, die hier jahrelang gefangen gehalten wurden, dann gehen nicht alle diese Menschen fröhlich nach Hause. Und wenn auf dem Polizeirevier jemand einen Stapel Fotos von vermissten Kindern durchschaut, dann sehen diese Fotos nicht alle gleich aus, sondern sind nach Größe, Format, Alter verschieden, sind neu oder abgegriffen, wurden aus Alben herausgerissen, aus Portemonnaies genommen oder aus Rahmen gelöst… Das mögen andere als Kleinigkeiten sehen – mich stört’s. „Der fremde Sohn“ wird mit Sicherheit ein Riesen-Erfolg werden, und den hat Eastwood auch verdient. Ich mag solche glatten Oberflächen nicht (mehr).