Regine Nahrwold am 19. November 2008
22. Internationales Filmfest Braunschweig: Chaos und Stille
An einem Nachmittag sah ich unmittelbar hintereinander zwei Filme, die für mich zu den Höhepunkten des Festivals zählen: Caotica Ana des spanischen Regisseurs Julio Medem und Stilles Licht des mexikanischen Regisseurs Carlos Reygadas – ein Kontrast, wie er größer kaum sein könnte!
Die junge Malerin Ana (Manuela Vallés) – eine „Schwester“ von Medems Lucia aus Lucia und der Sex – lebt mit ihrem deutschen Hippie-Vater (Mathias Habich) auf Ibiza, in einer Höhle; in deren Innerem befinden sich lauter farbige Türen, die aber verschlossen sind. Die reiche Mäzenin Justine (Charlotte Rampling) entdeckt Ana und ihre knallbunten Bilder, nimmt sie mit zum Studium nach Madrid, in ihre Kunstschule. Sie sagt ihr: „Du musst Dich in Dein Unbewusstes hineinbegeben, sonst wird Deine Kunst niemals Tiefe gewinnen.“ Aber Ana, die sich all den neuen Eindrücken freudig, mit vorbehaltlosem Staunen, fast naiv hingibt, antwortet: „Ich habe kein Unbewusstes, ich träume ja nicht einmal in der Nacht.“ Das ändert sich schlagartig, als sie erst Said (Nicolas Cazale) und dessen informellen, an Spuren im Wüstensand erinnernden Bildern, dann einem amerikanischen Hypnotiseur begegnet. Der dunkle Said ist Berber und Kriegswaise; mit ihm, dem jede Nacht schlimme Albträume den Schlaf rauben, erlebt die blonde Ana ihre erste leidenschaftliche Liebe. Eines Tages ist er spurlos verschwunden. Unter Anleitung des Hypnotiseurs begibt sich Ana auf die qualvolle Reise in das eigene Innere, öffnet die Türen zu ihren vorherigen Leben, in denen sie stets eines gewaltsamen Todes starb – eine nicht enden wollende Kette, die immer weiter in die Vergangenheit zurückreicht. Ein Segeltörn führt sie übers Meer nach Amerika, zu einem Indianerstamm, zum Anfang ihrer eigenen Geschichte, der zugleich ein Schlussstein ist…
Caotica Ana ist eine Erzählung, wie sie vielleicht nur in einem katholischen Land entstehen kann: mystisch, dunkel, geheimnisvoll kreist sie – auf nicht sonderlich subtile Weise – um das Thema Schuld (auch die der weißen Eroberer und Kolonialherren), glorifiziert die Frau und ihr erlösendes Opfer sowie die archetypische Anziehungskraft der Geschlechter. Man muss das alles nicht mögen, dieses Weltbild nicht teilen und auch nicht an Reinkarnation glauben, um trotzdem Gefallen an diesem Film zu finden. Denn er ist einerseits sehr kunstvoll gebaut, andererseits so verrückt, so phantasievoll, so märchenhaft, so kreativ und so prallvoll mit Leben und Farbe und Tempo und Bildern, die sich oft in mehreren Schichten überlagern und durchdringen – etwa die gemalten Bilder auf den Staffeleien und an den Wänden, die Bilder der Performances und die Videos, die Anas Freundin Linda davon dreht – dass er einen einfach wie ein großer Rausch mit sich fortreißt! (Besonders faszinierend fand ich eine 3D-Kamerafahrt in Anas Bilder hinein.) Medem hat diesen Film übrigens zwei Anas gewidmet: Ana, die gegangen ist und Ana, die gekommen ist: seiner während der Dreharbeiten verstorbenen Schwester und seiner während der Dreharbeiten geborenen Tochter.
Stilles Licht beginnt mit einem Sonnenaufgang, der so gewaltig ist, dass man meint, dem ersten Schöpfungstag zuzusehen. Vom Zeitraffer auf etwa 5 Minuten komprimiert, beginnt dieser Tag mit dem Blick unter das Sternenzelt, um sich dann, mit aufflammendem Morgenrot begleitet vom Chor der Zikaden und anderer Tierstimmen, vom Himmel auf die Erde herabzusenken. Schließlich ist er angekommen, es ist hell. Schnitt. Das tickende Pendel einer Wanduhr sagt uns, dass die kosmische Zeit nun abgelöst ist durch das mechanische Maß von Tagen, Stunden, Minuten, Sekunden. Im Pendel spiegelt sich eine um den Küchentisch zum Gebet versammelte Mennonitenfamilie. Nach dem Frühstück bleibt Johan, der Vater, allein zurück, allein mit einem großen Kummer: Er liebt eine andere Frau, Marianne, und kann von ihr nicht lassen, denn anders als Esther, seine Ehefrau, ist sie seine „natürliche Frau“, wie ein Freund es treffend nennt.
In langsamen, ruhigen, einfachen, klaren Bildern erzählt der Film von dieser Liebe und ihrer Schuld, eingebettet in das Landleben eines wortkargen – wenn überhaupt, dann Plautdietsch sprechenden – Menschenschlags, einer Glaubensgemeinschaft, die in Mexiko streng nach der Bibel und fast noch so wie im 19. Jahrhundert lebt, auf jeden Fall ohne Telefon, TV und Internet. Eine sehr schöne Szene – die Kamera verweilt mit langen und liebevollen Blicken bei den Spielen und auf den Gesichtern der kleinen und größeren Kinder – schildert das Baden und Haarewaschen der Familie im Fluss. Natürlich scheint da hindurch das Bild der Taufe. (Die Mennoniten sind Täufer, d.h. Anhänger der Erwachsenentaufe und damit der bewussten Entscheidung für den Glauben.)
Die Geschichte endet mit dem Tod Esthers, die schluchzend, mit gebrochenem Herzen, an einem Baum in sich zusammensinkt, ja geradezu implodiert. Lange sitzt Johan mit ihrem leblosen Körper auf dem Schoß im strömenden Regen am Straßenrand – eine stumme Pietá, an der riesige Trucks und Landmaschinen wie archaische Urviecher vorüberziehen. Mit guten, beruhigenden, selbstverständlichen Ritualen nehmen dann die Familie und die Gemeinde Abschied von der Toten, und ganz zum Schluss geschieht sogar noch ein Wunder…
Ein Wunder haben auch Reygadas, seine sich selbst darstellenden Laienschauspieler und sein (genialer!) Kameramann Alexis Zabe vollbracht: das Wunder, im Kleinen das Große, Erhabene zu finden, in der Reduktion und Konzentration auf das Wirkliche eben diese Realität zu transzendieren. Der Film endet wie er begann: mit einem Sonnenuntergang, mit der Rückkehr in die Nacht, unter den gestirnten Himmel.
Mit einem brandneuen Trendsetter („Can a Video Game make you cry?“), mehreren thematischen Reihen und Preisen, mit prominenten Gästen, mit Mitternachtsgesprächen, Parties und Gala bot das Filmfest dieses Jahr wieder eine unglaubliche Vielfalt. In dem kleinen Ausschnitt, den ich wahrgenommen habe, war „Stilles Licht“ meine größte Entdeckung.