Regine Nahrwold am 10. Januar 2009
München: Kandinsky – absolut abstrakt
„Stell Dir mal vor: wenn wir da endlich drin sind, kriegen wir nur Drucke zu sehen!“ „Waaaas??? Darf ich die wenigstens fotografieren?“ „Also nee, stehen wir hier etwa stundenlang Schlange, um dann Drucke zu fotografieren? Das darf ja wohl nicht wahr sein!“ „Ja, die echten Originale, die sind im Keller – garantiert. Wirklich, es gibt eine Garantie vom Museum, dass die Originale im Keller sind!“ Solche netten Gespräche vertrieben mir und anderen die Zeit, als ich vor dem Lenbachhaus in München auf Einlass in die große Kandinsky-Ausstellung wartete. Die Winterkälte konnten sie allerdings nicht überwinden, auch heiße Zitrone oder Punsch, der Schlange feilgeboten, wirkten hier nur kurzfristig. Langsam, aber sicher dehnten sich meine Eisfüße immer weiter nach oben aus. Ich fand, es wäre eigentlich ein Super-Service, wenn man im Museum als erstes ein Paar angewärmte dicke Socken und Filzpantoffeln bekäme! War aber leider nicht der Fall und hätte auch gar nichts genützt, denn nach Kauf der Eintrittskarte musste ich eh gleich wieder raus, über die Straße und ab in – ja, genau: in den Keller, den Kunstbau neben der U-Bahn-Station. Dort nämlich sind jene rund 90 Gemälde Kandinskys zu sehen, die aus dem Besitz des Lenbachhauses in München, des Centre Pompidou in Paris und des Guggenheim Museums in New York für diese von E.ON geförderte Schau zusammengetragen wurden.
Auch wenn sie mir keine grundstürzend neuen Erkenntnisse gebracht hat, war es natürlich eine Riesenfreude, Kandinsky großartige Bilder in solcher Fülle und Dichte zu betrachten. Und wieder fühlte ich mich besonders zu den frühen hingezogen, den wild und spontan wirkenden Improvisationen ab 1912. (Das Besondere an der Auswahl hier: fast überall, mal mehr, mal weniger deutlich, war als Leitmotiv und quasi „blauer Faden“ die Figur des Reiters zu finden.)
Diese Bilder sind einfach mitreißend in ihrer bis heute ungebrochenen Radikalität und Frische, während die späten mit den scharfen Konturen und dem gleichmäßigen Farbauftrag zwar durch ihre Klarheit bestechen, mir aber immer auch etwas kleinlich und ausgeklügelt erscheinen. Allerdings wurde mir jetzt erst so recht bewusst, wie mächtig der Einfluss Kandinskys auf die Malerei des 20. Jahrhunderts war, sicher auch durch das geniale theoretische Fundament, mit dem er sein malerisches Werk untermauert hat, und wie weit er reicht, sogar noch bis heute: Baumeister, Wols, Pollock, de Kooning und Frank Stella, ja sogar Gerhard Richter mit seiner 2008 entstandenen Serie von 50 x 2 kleinen Hinterglasbildern, die ich just in der Ausstellung seiner abstrakten Bilder im Kölner Museum Ludwig sah – sie alle kann man noch auf Kandinsky zurückführen! Und so hat mir die Ausstellung das Glück beschert, einen altbekannten Künstler wieder „jung“, mit neuen Augen, zu sehen, und mich mit der Energie aufgeladen, die seine Werke heute noch versprühen. Genau darüber geriet ich übrigens mit einem Unbekannten ins Gespräch, der gleichzeitig mit mir ganz dicht an Etagen, ein sehr kleines Format von 1929 aus dem Guggenheim Museum, herantrat. Er war Kunsthistoriker, wie ich auch, und für eine halbe Stunde teilten wir dieses Glück des Neusehens und Staunens miteinander, die Freude, sich jemandem mitteilen zu können, der ähnlich denkt und fühlt. Es war bereits sein 19. Ausstellungsbesuch, so begeistert war er!
Der Kunstbau war übrigens brechend voll, was mich aber keineswegs störte, denn einerseits sind die meisten Bilder ja großformatig und wollen eh aus einer gewissen Entfernung gesehen werden; andererseits waren all diese Besucher stets in Bewegung, und viele Menschen, auch die Führungsgruppen, trugen Kopfhörer, so dass Gespräche nicht störten und es insgesamt sogar ein recht angenehmes Bad in der Menge war.
Nach gut einer Stunde ging ich wieder ins Lenbachhaus hinüber, wo „die Drucke“, sprich: das druckgraphische Werk Kandinskys meiner harrte. Und das war nun wirklich eine Sensation, denn all das hatte ich noch nie im Original gesehen! Dementsprechend angetan war ich, vor allem von den frühen, „märchenhaften“ Farbholzschnitten (von denen oft mehrere, unterschiedlich farbige Fassungen nebeneinander hingen, manche sogar mit handschriftlichen Notizen zur Farbigkeit auf dem Passepartout) und Vignetten, aber auch von den Lithographien, den feinnervigen Radierungen und der Mappe „Kleine Welten“!
Ein Rundgang durch die Dauerausstellung des Lenbachhauses zum Blauen Reiter beschloss mein Kandinsky-Erlebnis. Wieder bestaunte ich vor allem die frühen, volkstümlich wirkenden Hinterglasmalereien, die ursprüngliche, explosive Kraft der Gemälde von Kandinsky, Münter, Jawlensky aus der glücklichen Murnauer Schaffensperiode und die feine Klee-Sammlung. Einige Räume waren von Künstlern gestaltet, inszeniert worden – ein Experiment, das der Kunst darin allerdings überhaupt nicht gut und mir regelrecht in den Augen weh tat, sowohl in wörtlichem (das grelle Licht von Olafur Eliasson) als auch in übertragenem Sinne. Da kann man nur hoffen, dass Sir Norman Foster mit seinem Neubau für das Lenbachhaus, eines der schönsten Kunstmuseen in Deutschland, sensibler zu Werke schreitet! Aber selbst der Schrecken dieser Raumgestaltungsexperimente wurde an Scheußlichkeit noch überboten: von der haarsträubend kitschigen CD zur Ausstellung nämlich – Kandinsky absolut abstrus!!!
W. Kandinsky, Transverse Linie, 1923
W. Kandinsky, Composition VIII, 1923
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