Regine Nahrwold am 21. März 2009
Lob der Langsamkeit
Heute habe ich mir – ganz unbewusst – einen lang gehegten Wunsch erfüllt. Im Nachtzug nach Lissabon von Pascal Mercier/Peter Bieri ist der Protagonist auf seiner Reise zurück in die Schweiz zu seinem großen Ärgernis gezwungen, eine bestimmte Strecke seines Weges mit einem „Bummelzug“ zurückzulegen. Dort begegnet er einer jungen Frau, die ihm erzählt, sie sei im Laufe ihres Lebens zu einer Spezialistin für langsame Züge geworden, weil sie es genießt, auf diese Art und Weise Zeit zu haben. Mit dieser Figur habe ich mich sofort identifiziert, denn auch ich liebe das Zugfahren sehr, weil ich da endlich mal nach Herzenslust lesen, schreiben und Musik hören kann – etwas, was ich mir tagsüber zu Hause nicht gönne, wo mich immer irgendeine – tatsächliche oder vermeintliche – Pflicht davon abhält, diesem Vergnügen zu frönen. Seitdem stelle ich mir immer mal wieder vor, mit einem Wochenendticket in einem dieser adretten, neuen Regionalzüge durch die Lande zu fahren, ziellos, außerhalb der Hauptverkehrszeiten, möglichst lange am Stück, also ohne umzusteigen, um dann an der Endstation gleich wieder umzukehren und nach 10, 12 Stunden Bahnfahrt, angefüllt mit Lesen, Schreiben und Musik hören, wieder zu Hause einzutreffen. Dem bin ich heute sehr nahe gekommen:
Die letzten beiden Tage verbrachte ich in Cloppenburg (sic!) auf einer Tagung. Um nicht am letzten Tag noch spät abends nach Hause gurken zu müssen, hatte ich mir eine zweite Übernachtung gegönnt und erwachte heute morgen um acht Uhr, ausgeschlafen und putzmunter. Um kurz nach zehn bestieg ich frohgemut einen dieser adretten, neuen Regionalzüge nach Osnabrück – von dort wollte ich nach Braunschweig zurückzufahren – und versank sogleich in die fesselnde Lektüre von „Reise in ein dunkles Herz“, einer Erzählung von Peter Hoeg. Wie wurde mir, als ich mich nach einer Stunde Fahrzeit auf einmal in Wilhelmshaven wiederfand! Hatte ich doch glatt den Zug in die falsche Richtung genommen!
Nach eingehendem Studium des Fahrplans musste ich erkennen, dass die sicherste und kostengünstigste Lösung darin bestand, den adretten, neuen Regionalzug abermals zu besteigen und einfach wieder zurückzufahren – zwei entspannte, friedliche Stunden, die ich mit Joseph Roths „Legende vom Heiligen Trinker“ verbrachte; zwischendurch ließ ich immer wieder lange und zufrieden meine Blicke in die herrliche Vorfrühlingslandschaft hinausschweifen. Im Servicecenter des Osnabrücker Bahnhofs traf ich dann noch aus heiterem Himmel einen alten Freund, den ich ewig nicht gesehen hatte. Er war auf dem Weg zu einem wissenschaftlichen Kongress in Estland; angeregt verplauderten wir die 20 Minuten bis zum Eintreffen des Zuges, der ihn zum Hamburger Flughafen bringen sollte. Während meiner eigenen Wartezeit schrieb ich auf meinem Notebook zwei Briefe und verputzte dabei genüsslich Kaffee und ein superleckeres, riesengroßes, fettes Eis (3 Kugeln: Vanille, Schokolade, Mokka!!!) .
Soeben, um 17.41 Uhr, gute drei Stunden später als geplant, fahre ich, begleitet von „Let me go“ aus dem „Songbook“ des guten, alten Randy Newman, in den Braunschweiger Hauptbahnhof ein. Ich habe „Hommage á Bournonville“, eine weitere großartige Erzählung von Peter Hoeg, verschlungen, einen dritten Brief sowie diesen Text geschrieben – keine schlechte „Bilanz“ für einen Reisetag? Für meinen Geschmack ist er viel zu früh zu Ende gegangen…
„He Du, entspann doch mal! Siehste – geht doch!“