Regine Nahrwold am 24. Mai 2009
Das Meeresmuseum Stralsund
In Stralsund hat mich am meisten das Stammhaus des Deutschen Meeresmuseums in der Halle der (wieder aufgebauten) Katharinenkirche aus dem 14. Jahrhundert begeistert. Die Kirche dient bereits seit 1925 musealen Zwecken und wurde 1972-74 zum Meeresmuseum umgebaut. Bereits das ist bemerkenswert: Hier und heute gibt es in den christlichen Kirchen eine rege Diskussion darüber, wie man sich lästiger Sakralbauten, die sich partout nicht mehr mit Menschen füllen wollen, entledigen und sie neuen Funktionen zuführen kann – und dort, in der Ex-DDR, steht seit 3 Jahrzehnten ein äußerst gelungenes Beispiel dafür!
Um meine (persönliche und subjektive) Quintessenz dieses Museumsbesuchs gleich vorwegzunehmen: Reell ist das Meer ja durchaus begrenzt (auf ca. 70 % der Erdoberfläche, 1338 Mrd. km³ Wasser etc.), aber ideell ist es doch ein Unendliches,
und als solches ist es nicht bzw. nur in punktuellen Ausschnitten darstellbar; dazu kommt, dass wohl kaum ein Bereich der Natur so stark das Leben schlechthin verkörpert wie das Meer mit seiner unglaublichen Vielfalt an Flora und Fauna. Und das Urelement Wasser mit seinem ewigen Kreislauf und seinem permanenten Bewegungsstrom ist ja geradezu ein Urbild lebendigen Werdens und Vergehens. Den Lebensstrom, den es symbolisiert, spüren wir am intensivsten unmittelbar am eigenen Leib, indem wir uns hineinstürzen, in ihm schwimmen und uns von ihm davontragen lassen – kurz: indem wir ihn er-leben. Verstehen wollen wir das Leben aber im Allgemeinen in der reflektierenden Distanz, indem wir aus ihm heraustreten, uns isolieren und uns als Subjekt einem Objekt beobachtend und denkend gegenüberstellen. (Die Überwindung dieser Subjekt-Objekt-Spaltung wiederum ist das große Glück der Kunst, aber das ist eine andere Geschichte…)
Paradox: was die Natur, das Leben ausmacht, versuchen wir zum größten Teil anhand von Dingen zu begreifen, die ihrem natürlichen Lebenszusammenhang entnommen, also „tot“ bzw. musealisiert sind (Fossilien, Präparate bzw. Pflanzen im Herbarium, in Garten und Gewächshaus, Tiere im Zoo, Terrarium, Aquarium) oder anhand künstlicher Gegenstände wie Modelle, wissenschaftliche Zeichnungen und Diagramme, an didaktischen Schaukästen, Dioramen, Fotos, Filmen usw. (Am allerverrücktesten: Einerseits zerstören wir die Natur – andererseits entreißen wir diesem Zerstörungs- und auch dem natürlichen Verfallsprozess immer mehr „Souvenirs“, um die Erinnerung an das Vergehende zu bewahren.) Das Meeresmuseum Stralsund nun ist mit einer solchen gewachsenen Fülle, einer so gelungenen Mischung davon „gesegnet“, dass ich es voller Entdeckerfreude durchwandert habe und nach dem Rundgang das Gefühl hatte, sehr viel über das Meer gelernt, Wesentliches – in einem ganzheitlichen Sinne – von ihm begriffen und viele neue Fragen hinzugewonnen zu haben.
Das Erdgeschoss vermittelt Grundwissen zum Thema „Wasserplanet Erde, Meeresraum, Meeresforschung und Leben im Meer“ und – im Chor der Kirche – Wissenswertes zum Wal als einem der faszinierendsten Lebewesen des Meeres; im 1. Geschoss wird die Fischerei, v.a. Entwicklung der Hochsee- und Küstenfischerei der DDR dargestellt. Das 2. Geschoss veranschaulicht unter dem Titel „Mensch und Meer“, welchen Nutzen der Mensch vom Meer und seinen Organismen hat, und behandelt auch den Naturschutz. In einem Seitenflügel erwartet den Besucher eine große Abteilung „Ostsee“ und im Souterrain eine wunderbare Abteilung „Aquarium“.
Ich habe vor allem die Aquarien bestaunt, nicht nur das große Süßwasserbecken mit den Riesenschildkröten, sondern auch die vielen Becken, die über die gesamte Ausstellungsfläche im Erdgeschoss verteilt sind. Auch noch das kleinste von ihnen ist ein eigenes Biotop mit einer großen Zahl an Arten (und die, nicht die Zahl der Exemplare, machen ja die lebendige Vielfalt aus): Riffe und Felsen, dicht besetzt von Bäumchenweich-Koralle, Scheibenanemone, Wachsrose und anderen „Zwittern“ zwischen Tier und Pflanze, dazu am Grunde die Schwarze Seegurke und eine Pumpende Xenia. Drumherum tummeln sich die Gelbschwarze Demoiselle und der Blaugrüne Chromis, Neon-Füsilier und Maiden-Schläfergrundel, das Gelbe Fuchsgesicht und der Goldring-Borstenzahndoktor – ach, poetischere Namen als Fische haben höchstens noch Pilze! Wie zauberhaft, merkwürdig, grotesk, hässlich, unheimlich oder auch eklig muten doch die Lebewesen des Meeres an! Mit welch seltsamen Augen glotzen sie einen an, und erst ihre Bewegungen: die Garnele stakst und tentakelt mit ihren langen Fühlern einher, schaurig schlängelt sich die Große Netzmuräne aus ihrem Versteck hervor; manche Fische schweben aufrecht, leuchtend bunt, andere drehen sich fortwährend und zeigen Bauch und Maul; manche schießen blitzschnell und ruckartig vorwärts, einige verharren lauernd in ihren Höhlen, andere wiederum buddeln sich ein und verschmelzen in perfekter Mimikry förmlich mit ihrer Umgebung.
Diese Unterwasserwelt hat mich so gefangen genommen, dass ich völlig Zeit und Stunde (und die Mitgliederversammlung des Deutschen Museumsbundes) vergaß! In der Natur ist ja alles ganz Zweck und Funktion – dass sie auch schön ist, kann nur der Mensch sehen und erkennen. Mich hat auch der Gedanke berührt, dass dieses in einem Sakralbau eingerichtete Museum in der DDR vielleicht auch als „Kathedrale“ für die Mannigfaltigkeit und Schönheit des „Kosmos Meer“ gemeint war, getragen von Ehrfurcht vor der Schöpfung. Jedenfalls fand ich in einer Vitrine ein kleines Schild mit den Worten von Chief Seattle, Häuptling der Duwasnish-Indianer, von 1855:
„Die Erde ist Deine Mutter. Die Erde gehört nicht uns wir gehören der Erde. Was der Erde geschieht, geschieht allen Söhnen und Töchtern der Erde. Alle Dinge sind verbunden, wie das Blut, das uns einigt. Das Netzwerk des Lebens haben wir nicht geflochten. Wir sind nur ein Faden darin. Was wir dem Netz antun, tun wir uns selber an.“