Regine Nahrwold am 25. Juli 2009
Auf der Suche nach dem unbekannten Meisterwerk…
… oder: Man sieht nur, was man weiß.
Soeben habe ich eine DVD angeschaut, einen sehr schönen französischen Historienfilm über Balzac, von Josée Dayan, mit Gérard Depardieu, Jeanne Moreau, Fanny Ardant in den Hauptrollen. Er erinnerte mich daran, dass ich an dieser Stelle schon längst folgenden Schwank aus meinem Leben berichtet haben wollte: Ende letzten Jahres war ich bei dem Maler Hans-Georg Assmann, der mich um eine Rede zu einer Ausstellungseröffnung gebeten hatte, zu Besuch im Atelier. Und wie wir da so saßen, seine Bilder anschauten und uns über Kunst unterhielten, kam mir plötzlich Balzacs Erzählung „Das unbekannte Meisterwerk“ in den Sinn. Das kreative Prinzip, das diese Erzählung – ein Paradigma der Ästhetik der Moderne – umschreibt, schien mir zu Assmanns Arbeiten hervorragend zu passen, und…
ich fragte ihn, ob er sie kenne. Zu meinem Erstaunen verneinte er, worauf ich ihm mein Exemplar großzügig zum Geschenk anbot. Einen kurzen Moment überlegte ich noch, ob ich es für die Rede vielleicht selbst noch einmal… Ach was, Unsinn, schließlich kannte ich die Story zu Genüge! Tags drauf steckte ich Assmann das Buch in den Briefkasten.
Die Zeit ging ins Land und der Tag, da ich die Rede zu halten hatte, rückte näher. Aber mit dem Schreiben ging es nicht recht voran, und ich verspürte – wie immer in solchem Fall – den starken Drang, mich durch etwas Lektüre in Schwung zu bringen. Je mehr ich überlegte, desto stärker wurde meine Überzeugung: Einzig und allein Balzac konnte mich inspirieren, ja, es war mir absolut unmöglich, meine Rede zu schreiben, ohne „Das unbekannte Meisterwerk“ noch einmal genau und gründlich gelesen zu haben. Zu dumm, dass ich es so vorschnell verschenkt hatte – ich musste das Buch wieder haben, jetzt gleich! Und das konnte ja so schwierig nicht sein, denn schließlich gehört die Erzählung zu den Klassikern der Weltliteratur, würde also bestimmt im Internet auf den Seiten des Gutenberg-Projekts zu finden sein. Doch weit gefehlt: die französische Originalversion und eine Übertragung ins Englische fand ich zwar im Netz, nicht aber die deutsche Übersetzung, die ich unbedingt brauchte. Ich begann, den Wikipedia-Artikel über Balzac zu lesen, brach aber schon bald wieder ab, denn jetzt wollte ich mir das Buch unverzüglich besorgen, und da gab es keine Zeit zu verlieren! Anrufe bei meinen beiden Antiquariaten ergaben, dass es dort zur Zeit nicht vorrätig war. Also: auf in Braunschweigs Bibliotheken! Ich eilte in die mir nächst gelegene, die Stadtbibliothek, deren Katalog mir allerdings verriet, dass das Magazin-Exemplar aufgrund seines Alters nicht auszuleihen war. Na gut, dann würde ich bestimmt eine Ausgabe zum Mitnehmen im Freihandbestand finden. Vor dem Regalboden Balzac sah ich mich dann einem guten Meter Bücher gegenüber, den zahlreichen Bänden der „Menschlichen Komödie“. Ich griff den ersten Band heraus, stellte fest, dass er mehrere Romane und Erzählungen umfasste, und begann die Bände systematisch nach dem „Meisterwerk“ abzusuchen. Bei Nummer sieben gab ich schließlich entnervt auf und beschloss, lieber in die Universitätsbibliothek zu fahren. Dort gab es tatsächlich eine Gesamtausgabe, der von mir gesuchte Band jedoch fehlte, und man riet mir, es doch mal in der Stadtbibliothek zu versuchen. „Besten Dank, da komme ich gerade her!“ Laut Katalog existierte eine Fassung der Geschichte in der HBK-Bibliothek als Anhang zu „Die leibhaftige Malerei“ von Georges Didi-Huberman, aber für den Weg dorthin war es mir inzwischen zu spät. Statt dessen – mittlerweile hatte mich der Ehrgeiz gepackt, das Buch unbedingt noch heute zu erhalten – schaute ich auf dem Rückweg in einer Buchhandlung vorbei: Es müsste doch eigentlich von der Erzählung ein gelbes Reclam-Heftchen geben? Müsste, hätte, sollte… – gab es aber nicht, und eine der anderen Ausgaben war gerade nicht auf Lager.
Solchermaßen frustriert kehrte ich nach Hause zurück und pflanzte mich wieder vor den PC. Es musste mir nun gelingen, die Rede zu schreiben mit dem, was mir das Netz zum „Meisterwerk“ zu bieten hatte! Tatsächlich fand ich dort einiges an interessanter Sekundärliteratur. Ich begann da, wo ich Stunden zuvor aufgehört hatte: beim Wikipedia-Artikel zu Balzac. Und was musste (durfte) ich dort lesen? Balzac, ein früher Meister der Selbstvermarktung, immer in Geldnöten und auf der Flucht vor seine Gläubigern, hatte irgendwann begonnen, jeweils mehrere seiner Romane und Erzählungen in einem Band unter einem neuen Titel herauszugeben, (umzulabeln, wie man das heute nennt), ein neues Buch gleichsam „vortäuschend“. Und diese Bände wiederum hatte er gegen Ende seines Lebens – sich selbst zum Dante seiner Zeit erklärend – unter dem Gesamttitel „Die menschliche Komödie“ zusammengefasst, von denen Band 12 „Das unbekannte Meisterwerk“ enthielt. Ich hatte also in der Stadtbibliothek, ohne es zu ahnen, davor gestanden, es aus Unwissenheit nur nicht erkannt! Hätte ich gleich zu Anfang geduldig den Wikipedia-Artikel durchgelesen oder in der Bücherei ebenso geduldig sämtliche Bände der „Komödie“ durchgeschaut, wäre ich – ruckzuck! – am Ziel meiner Wünsche gewesen anstatt mit der Weitersuche einen ganzen Tag Zeit zu verplempern – ganz schön ärgerlich, das!
Heute kann ich immerhin sagen: Bei der ganze Aktion habe ich viel über Balzac gelernt, und es scheint mir bezeichnend, dass gerade dieser Schriftsteller, der die leere Mitte seines Lebens und Schaffens mit einer solchen Fülle an Gestalten und Materie – Kaffee und eigenes Körperfett inklusive! – verhängte und als Statue von Rodin in kongenialer Weise mit ebenso viel Stoff umkleidet wurde, mich derartig an der Nase herumgeführt hat! Übrigens besitze ich inzwischen „Das unbekannte Meisterwerk“ aus der Reihe der Insel-Bücherei mit Illustrationen von Picasso. Diese wunderbare Ausgabe habe ich mir von dem Honorar für meine Rede geleistet. (Und im Netz habe ich mittlerweile auch ein pdf gefunden.)