Regine Nahrwold am 1. August 2009
Hilde Domin
„Ich setzte meinen Fuß in die Luft, und sie trug.“
Letzten Donnerstag, am späten Abend, sah ich auf Radio Berlin Brandenburg den Dokumentarfilm »Ich will dich – Begegnungen mit Hilde Domin« von Anna Ditges, (2007). Anlass war der 100. Geburtstag Domins am 27. Juli. 95 Jahre war die Dichterin bereits alt, als der Film gedreht wurde, und der wiederkehrende herrische Unmut der alten Dame über die Nahaufnahmen der 26jährigen Filmerin durchzieht das Werk wie ein roter Faden. Und wie froh ist man, dass Anna Ditges sich immer wieder über diesen Unmut hinweggesetzt hat und sich… aus den Bildern des schönen, stolzen, sprechenden Gesichts mit dem weißen Haarhelm darüber ein Portrait der Dichterin, ihres Lebenswegs, ihres Oeuvres herauskristallisiert. Dass sie ihr nahe gekommen ist, bei allem Abstand, den die Künstlerin für sich eingefordert und durch Verweigerung auch gewahrt oder immer wieder hergestellt hat. (Dürrenmatt: „Sei menschlich – halt Abstand!“) „Man schreibt es auf mit einem Stift“, antwortet sie auf Anna Ditges‘ Frage „Wie entsteht ein Gedicht?“. Und dann? „Dann schreibt man es mit der Schreibmaschine ab. Dadurch wird es einem ein Stück weit fremd, und man kann es weiter bearbeiten.“ Etwas später: „Was braucht man, um ein Gedicht zu schreiben?“ Antwort: „Einen Stift.“ Aber auf die Frage, was ein Gedicht ist, sagt sie dann doch: ein Modell, der Klang, der aus den Vokalen entsteht, und etwas, das Paradoxes enthält.
Die Domin, Tochter eines Rechtsanwalts und einer Sängerin, spricht in dem Film über ihre glückliche Kindheit in einem großbürgerlich-liberalen, jüdischen Elternhaus, wo sie alles denken und sagen konnte, wenig musste und viel durfte: Sie durfte mit ihrem Vater in sein Büro gehen, durfte mit ihm ins Theater, durfte seine Bücher lesen… Auch ihre Freunde aus der Arbeiterbewegung durfte sie ins Haus einladen und mit ihnen Marx diskutieren! (Die Eltern zogen sich derweil diskret zurück und überließen ihr das Feld.) Sie spricht über die Jahre des Exils – Rom, England, die Dominikanische Republik – und über Erwin Walter Palm, ihren gelieben Mann, den – wie die junge Filmerin aus ihr herausfragt – einzigen, den sie jemals hatte. (Und was für ein schönes Paar waren die beiden!) Wie er, der Dichter, Kunst- und Kulturwissenschaftler auf ihre Gedichte reagiert hat? Er habe gesagt: Du? Du bist doch keine Dichterin. „Und dann habe ich’s ihm vorgelesen, und er hat gesagt: Das ist ein Gedicht, und hat die Tür geknallt. Er war schockiert, und der Schock, das war die Anerkennung.“ 1954 dann nach 22 Jahren die Rückkehr nach Deutschland, nach Heidelberg, wo ihr Mann – er hatte als einziger seiner Familie den Holocaust überlebt – eine Professur erhielt. 1959 Veröffentlichung des ersten Gedichtbandes, benannt nach dem Gedicht „Nur eine Rose als Stütze“. (Und ein Gedichtband, den ihr Mann herausgegeben hat, heißt „Rose aus Asche“.) Ein besonders schöne Szene des Films zeigt die Domin, wie sie welke Rosen aus Sträußen aussortiert und jede, die sie wegwirft, mit einem Kuss verabschiedet…
Der Film, der auch die wachsende Vertrautheit zwischen den beiden Frauen – über den Altersunterschied von fast 70 Jahren hinweg – dokumentiert, endet mit der Beerdigung der verstorbenen Dichterin und den Worten, die sie für das Grab bestimmt hat, in dem sie und ihr Mann gemeinsam bestattet sind: