Regine Nahrwold am 17. November 2009
23. Internationales Filmfest Braunschweig: „Love and Death on Long Island“
Mein Lieblingsfilm des diesjährigen Festivals ist „Love and Death on Long Island“ von Richard Kwietniowski von 1997. In der Hauptrolle dieses Films glänzt John Hurt, der – nach Hannah Schygulla und Bruno Ganz – dieses Jahr mit dem europäischen Schauspielpreis „Europa“ geehrt wurde.
Hurt spielt Giles De’Ath (!), einen etwa 60jährigen erfolgreichen englischen Schriftsteller, der ganz und gar in den traditionellen, akademischen Kreisen Londons zu Hause ist. Seit dem Tod seiner Frau lebt er allein in einer Wohnung voller Bücher und schöner alter Möbel; er hat einen Agenten und eine Haushälterin, die ihm mit der Präzision eines Uhrwerks den Tee und seine Mahlzeiten zubereitet. Dieses niemals hinterfragte Leben gerät ins Wanken, als De’Ath eines Tages versehentlich in den falschen Film gerät, eine alberne Teenie-Klamotte mit dem Titel „Hotpants College No. 2“, und sich in den Hauptdarsteller Ronnie Bostock verliebt – einen hübschen, netten, geistlosen Typen vom Schlage eines Patrick Swayze in „Dirty Dancing“. Eros entflammt Giles in dem Moment, da er Ronnie – neben einem riesigen, knallroten Plastikapfel! – erblickt, hingegossen wie die Venus von Cabanel in jener Haltung, die er zuvor bereits an einem sterbenden Jüngling auf einem präraffaelitischen Gemälde bewundert hatte. (Allein schon für die verschiedenen Mienen des Verzückens, mit denen De’Ath in den Anblick seines Schwarms versunken ist, hätte John Hurt einen Preis verdient!) Noch in diesem abgedroschensten aller Klischees sieht Giles das Gute, Wahre, Schöne, an das er selbst glaubt und das er nun mit ganzer Leidenschaft in Ronnie hineinprojiziert. De’Ath (!) wird zur Verkörperung einer Gedichtzeile August von Platens: „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, ist dem Tode schon anheimgegeben.“
Was wie eine pubertäre Schwärmerei beginnt, wird zur Obsession. Unter dem Vorwand, er arbeite an einem Buch, zieht Giles sich immer mehr zurück, um in Wirklichkeit seiner neuen Leidenschaft zu frönen: Er schafft sich einen Anrufbeantworter, ein TV und einen Videorecorder an, vor dem er nun, Pizza futternd, stundenlang hockt und heimlich Ronnies Filme anschaut. Er studiert das Leben seines Stars in der Regenbogenpresse. Er zeichnet immer wieder seine hingebungsvoll da liegende Gestalt. Er schneidet Fotos aus Magazinen á la „Bravo“ aus und klebt sie in ein Album ein. Diese „Bostockiana“ ist sein neues Buch, das neue Kapitel seines Lebens, in dem die bislang verdrängte homoerotische Neigung voll zum Durchbruch kommt. Sein Verlangen nach physischer Verschmelzung verklärt Giles dabei durch ein hohes Maß an Sublimierung und Ästhetisierung: Er widmet seinen nächsten Vortrag seinem neuen Thema „Finden wir die Schönheit nicht oft gerade dort, wo wir sie am wenigsten erwarten?“ und spricht über Schauspielerei. Dabei verkündet er Binsenwahrheiten, die genau so trivial sind wie sein neuer „Forschungsgegenstand“, denn in Hinsicht auf dieses Thema ist er, der Gebildete, genau so ungebildet wie in allen Dingen der modernen Technik: Er verwechselt einen Videorecorder mit einer Microwelle, und verfügt über keinerlei Kriterien, um einen guten von einem schwachen Film zu unterscheiden. Im Zauber seiner Verliebtheit erscheint ihm noch das Trivialste wunderbar und staunenswert.
Mit einer Mischung aus Belustigung, Rührung und Besorgnis verfolgt man als Zuschauer die Entwicklung des Protagonisten: Was dieser feine und kluge Mann da tut, ist doch lächerlich und peinlich, ja gefährlich! Gleicht er nicht einem Schlafwandler, der am Rande eines Abgrunds entlangbalanciert? Setzt er nicht all sein Geld, seinen guten Ruf, seine berufliche, ja gesamte Existenz für einen Nichtswürdigen aufs Spiel? Das fragt man sich spätestens, als De’Ath beschließt, nach Long Island zu fliegen, um in Chesterton, wo Ronnie lebt, Urlaub zu machen. In einem billigen Motel schlägt er sein Quartier auf, in einer gewöhnlichen Kneipe nimmt er seine Mahlzeiten (Cheeseburger!) zu sich. Und wie ein Stalker pirscht er sich von dort aus peu á peu in winzigen, äußerst geschickten Schritten an sein Idol heran, zieht seine Kreise immer enger, bis es ihm schließlich gelingt, erst seinem Hund, dann seiner Freundin und schließlich ihm selbst zu begegnen. Das nette Pärchen freundet sich mit dem höflich-kultivierten, etwas verschrobenen Schriftsteller aus Good Old Europe an, und De’Ath beginnt an Ronnie sein Verwandlungswerk – kraft seiner Liebe, die da sagt: „Ich kenne Dich besser als Du selbst, denn ich sehe Dich nicht so, wie Du bist, sondern so, wie Du sein könntest!“ Er will aus Ronnie einen ernsthaften Schauspieler machen und beginnt sogar, an einem Drehbuch für ihn zu arbeiten. (Die Figur, die er Ronnie auf den Leib schreibt – ein in sich eingeschlossener Taubstummer, der sich innigst wünscht, sich unsterblich zu verlieben – ist geradezu eine Beschreibung seiner selbst.) Seine Bemühungen gipfeln schlussendlich in einer anrührenden Liebeserklärung, mit der er Ronnie für sich zu gewinnen sucht; er bietet ihm an, ihm das zu sein, was Verlaine für Rimbaud gewesen ist: Freund, Förderer, Liebhaber. (Und wer auch nur den Hauch einer Ahnung des Verhältnisses zwischen Verlaine und Rimbaud hat, weiß, dass genau dies der Abgrund ist, der De’Ath droht.) Aber Ronnie („Rambo?“) spürt mit gesundem Instinkt, dass Giles‘ Projektionen nichts mit ihm zu tun haben, und zieht sich brüskiert von ihm zurück.
De’Ath reist ab, nicht ohne Ronnie noch einen ellenlangen Brief voller Beschwörungen zu faxen. Während er selbst auf dem Weg zum Flughafen ist, quillt dieser Erguss an Papier und leidenschaftlich-zärtlichen Worten unaufhaltsam in Ronnies Wohnzimmer hinein. Man sieht den jungen Mann die nicht enden wollende Flut überfliegen und schließlich wütend zusammenknüllen. Nein, ein paar Zeilen des Dichters Walt Whitman berühren ihn doch, er hält inne und rettet sie im letzten Moment aus dem Chaos, um sie tatsächlich in seinem nächsten Film verwenden:
„Der unausgesprochene Wunsch, von Land und Leben nie gewährt: Jetzt, Reisender, segelst Du weiter, um zu suchen, um zu finden.“