Regine Nahrwold am 5. Dezember 2009
Ausstellung: „Bridget’s Bardo“ – James Turrell’s Wolfsburg Project
Es ist unbeschreiblich. Und es ist unbeschreiblich schön: Das allmähliche, fast unmerkliche Fließen des farbigen Lichts von Knallrosa nach Himmelblau in „Bridget’s Bardo“, dem „Ganzfeld Piece“, das James Turrell im Kunstmuseum Wolfsburg errichtet hat. Man betritt den 11 Meter hohen Raum von oben her über eine Rampe, die offenbar zugleich die Quelle ist, von der aus das Farblicht den ganzen Raum gleichmäßig und schattenlos durchflutet. (Die Grenzen des Raums erscheinen dabei aber durchaus nicht aufgehoben, sondern zeichnen sich deutlich ab.) Vom Fußpunkt der Rampe schaut man durch ein großes Fenster in einen zweiten, von dichtem Farbnebel erfüllten Raum, der wie ein Ausschnitt des unendlichen Raums wirkt. (So wie in jenen älteren Installationen Turrells, wo ein solches, meist zartfarbiges, „Fenster in die Unendlichkeit“ am Ende eines total dunklen Raums langsam im Auge des Besucher aufscheint. Nie werde ich vergessen, wie ich im Museum für Moderne Kunst Frankfurt das erste Mal völlig ahnungslos in solch einen Turrell-Raum hineingeriet und wie bezaubert ich davon war – eine Wirkung, die sich, nachdem ich den „Trick“ durchschaut hatte, in dieser Stärke leider nie wieder eingestellt hat!)
Der langsame Wechsel vollzieht sich nicht nur in der Farbigkeit, sondern auch in den Nuancen und in der Helligkeit der Farben: zwischen Pink und Blau – zwei sehr künstlich wirkende Farben – gibt es wunderbare zartrosa und hellviolette Töne, fast wie an einem Morgenhimmel, und dazwischen noch ein satt glühendes Goldorange. Die Felder von Ein- und Ausgang des Lichtraums erscheinen dazu, rein optisch, in den Komplementärfarben grün und gelb. Durch dieses Gleiten, an der Grenze, wo – in Turrells Worten – das innere und das äußere Sehen ineinander übergehen, wird man sanft herausgehoben aus der Banalität des Alltags. (Ein bisschen erinnert es an etwas, was ich als Kind gern getan habe: die Handballen auf die geschlossenen Augen gepresst, und mich dann bis zum Schwindel den seltsamen Mustern hingegegeben, die von der Innenseite des Lids her vorbeitrudelten.) Fast schon wie ein Rausch aller Sinne ist dieses Erlebnis, und man mag sich gar nicht mehr davon losreißen…
In „Farbgestaltung und Farbtheorie in der abendländischen Malerei. Eine Einführung“ (Darmstadt 1987, S. 1) schreibt Lorenz Dittmann: „In drei epochemachenden Leistungen verwirklicht die europäische Malerei zwischen dem Ausgang der Antike und dem Aufkommen der Tafelmalerei als einer führenden Kunstgattung eine je neue Einheit von Farbe und Licht: in der Ausbildung des frühchristlichen Wand- und Deckenmosaiks seit etwa der Mitte des 5. Jahrhunderts, der annähernd gleichzeitigen Einführung des Goldgrundes und schließlich der Schöpfung des Glasfensters mit dem Beginn der Gotik. (…) Der gemeinsame Grund für die Besonderheit der Farbwirkung in den drei Fällen liegt darin, daß die unmittelbare Einbeziehung des realen, physischen Lichts zur Grundbedingung des Erscheinens von Farbe gemacht wird. Damit entfällt ein Hauptproblem aller nachmittelalterlichen Malerei, nämlich die Wiedergabe von Licht durch die Farben. Das Licht selbst ist real anwesend und lässt die Farben entstehen oder unterstützt zumindest durch seine Gegenwart Tendenzen in der Farbe und den Farbzuordnungen, die zum Licht führen.“
1500 bzw. 800 Jahre später, und nachdem die Versuche, Licht durch Farben darzustellen, die Wunder der Malerei eines Elsheimer, Tizian, Rubens, Rembrandt, Vermeer, Lorrain, Bellotto hervorgebracht haben; 200 Jahre, nachdem Caspar David Friedrich seinen „Mönch am Meer“ malte, dessen existentielle Einsamkeit vor der grenzenlosen Weite und Leere des Himmels Kleist erschauern ließ, 150 Jahre, nachdem die Impressionisten das Licht in reinen Buntfarben festzuhalten suchten, und 50 Jahre, nachdem Mark Rothko die absolute Farbe auf der Bildfläche gleichsam schweben und pulsieren ließ, setzt Turell anstelle der Farbmaterie physikalische Lichtphänomene ins Bild und weitet die Kunst bis zur äußersten Grenze in Richtung Natur aus. Den Roden Krater, einen erloschenen Vulkan in der Wüste Arizonas, funktioniert Turrell seit Jahren zu einem Himmelsobservatorium um (wird da Rilkes Weltinnenraum Architektur?). Dort rahmen nach oben gerichtete ovale und runde Oculi (Window = Windauge, wie das des Pantheon) Ausschnitte des sich stetig wandelnden Himmels ein – Blicke ins Universum. (Die Einbettung des Roden Krater Projects in die umgebende Landschaft und den amerikanischen Gründungsmythos zeigt sehr schön dieses Video, von der 3. bis zur 11. Minute.)
Turrells Kunst lebt von der Sehnsucht nach der kosmischen Weite und – zugleich – ihrer Unerreichbarkeit. Es ist und bleibt condition humana, dass wir in unserer endlichen Existenz den Kosmos immer nur in begrenzten Ausschnitten mehr erspüren als wirklich sehen können – und war nicht Kleists Schauer vor Friedrichs „Mönch am Meer“ die Ahnung, dass wir die totale Entgrenzung überhaupt nicht aushalten würden? Kunst ist, diese Ausschnitte immer wieder neu zu wählen, zu setzen, zu erzeugen, zu zeigen, zu öffnen, zu füllen, zu rahmen, auszustellen. Turrels Kunst entspringt dem Paradox, dass das, was sie zeigen will, sich immer wieder entzieht und dabei dennoch gerade in diesem Entzug zum Vorschein kommt. Kunst bleibt hinter der Natur zurück – und doch vollendet sie, was diese begann.
Um „Bridget’s Bardo“ gruppieren sich die weiteren Facetten der Ausstellung, die das „Ganzfeld Piece“ in die Genese des Turrellschen Oeuvres, seine Herkunft aus der Minimal Art und der Land Art einbinden. (Vier monochrome Bilder und ein Lichtraum von Mario Merz aus der Sammlung des Museums ergänzen sehr gut diesen Aspekt.) Ein eigener Raum ist einer Slideshow zum Roden Krater gewidmet, dazu kommen Modelle seiner Architektur und Luftaufnahmen der ihn umgebenden Landschaft. Neben einem Kreis aus Holzstücken von Richard Long hängt eine große Schwarzweiß-Fotografie der Wasserfälle nahe dem Roden Krater, aufgenommen vom passionierten Flieger James Turrell – ein Blick von hoch oben auf den Leib der Erde, auf ihre zerklüfteten und durchströmten Formationen, ein Anblick von erhabener Schönheit.
Bereits 1966 hatte der Künstler das verlassene Mendota-Hotel erworben und zu einem Atelier, Labor, Gehäuse ausgebaut, in dem er die Grenzen des inneren Wahrnehmungsraums ausdehnte und einerseits nach außen hermetisch abriegelte, um andererseits dann doch wieder Ausblicke zu öffnen. Von diesem Experiment zeugt eine Serie großformatiger Radierungen, Räume mit großen, weißen, leeren Flächen darin. Ein Vorbild für Turrell: Étienne-Louis Boullées Entwurf eines Kenotaphs für Isaac Newton von 1784.