Regine Nahrwold am 17. Februar 2010
„Beckmann spielt Cello“ und andere Kammermusik
Drei schöne Konzerte standen für mich wie Sterne über der Schnee-, Eis- und Kältewüste der letzten Wochen: Am 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Ausschwitz, spielten die Braunschweiger Kammersolisten im Roten Saal des Kulturinstituts der Stadt Braunschweig Arnold Schönbergs Streichsextett „Verklärte Nacht“ und ein Streichquartett von Erwin Schulhoff. Dieses Werk des Prager Komponisten, der als Jude und überzeugter Kommunist – er hat sogar das Kommunistische Manifest vertont! – 1942 im Internierungslager auf der Wülzburg bei Weißenburg/Bayern an den Folgen von Unterernährung, Erschöpfung und Krankheit starb, erinnerte mich sehr an Dvořák und war für mich eine echte Neuentdeckung. Zwischen beiden Musikstücken las Annagerlinde Dodenhoff eine Erzählung von Isaac B. Singer.
Am 7. Januar erklangen im Gemeindesaal von St. Katharinen drei Klaviertrios, von Haydn, Schubert (B-Dur, op.99) und Brahms (H-Dur, op.8). Dieses ausgesuchte und fein aufeinander abgestimmte Programm wurde gespielt von In-Kun Park (Klavier), MinJung Kang (Violine), Uwe Kang (Violoncello). Der temporeiche und mitreißend-dynamische Vortrag der drei Solisten, die bestens aufeinander eingespielt waren und einander ebenbürtig ergänzten, ließ die Abfolge der drei Werke wie aus einem Guss erscheinen. Dies war der 2. Kammermusikabend des von In-Kun Park initiierten und geleiteten Louis Spohr-Musikforums Braunschweig. Ich freue mich schon auf den 13. März, wenn das Louis Spohr-Orchester unter Leitung von In-Kun Park mit den Solisten YongKyo Lee und Özgür Aydin zum 200. Geburtstag von Fréderic Chopin dessen beide Klavierkonzerte aufführen wird! (13.3., 20 Uhr, Braunschweig, Stadthalle, Congresssaal).
Und schließlich gab der Cellist Thomas Beckmann am 11.2. ein Benefizkonzert in der Martinikirche. Seit Jahren engagiert sich der Schüler von Pierre Fournier, der mit seiner japanischen Ehefrau, der Pianistin Kayoko Matsushita, in Düsseldorf in der Wohnung von Clara und Robert Schumann lebt, für arme und obdachlose Menschen. Seine Benefiztournee 2010 führt ihn von Januar bis März durch 53 deutsche Städte.
Bevor der Cellist sein Instrument „sprechen“ ließ, rief er zum Spenden auf. Am Ende seiner Rede verlas er folgende aufrührerischen Sätze: „„Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. (…) Inhalt und Ziel (einer) sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.“ Und was ist’s? Das Ahlener Programm der CDU von 1947!
Im Dämmerlicht der Martinikirche spielte Beckmann mehrere kleine Stücke von Charlie Chaplin (der diese Musik für einige seiner Filme selbst komponiert hat) und Johann Sebastian Bachs dritte Cellosuite, nicht ohne jeden der einzelnen Sätze/Tänze vorher anschaulich zu erläutern (und sich jeweils vor dem Vorspielen der beispielhaften Takte mit einem laut vernehmlichen „Wusch!“ das Mikro in die Hosentasche zu stopfen). Auf seinem Instrument „Il Mendicante“ („Der Bettler“) von dem Stradivari-Schüler Guadagnini erklangen voll und warm die Kantilenen und Arpeggien dieser so modern anmutenden Bachschen Solosuite zwischen weich-melodiös und spröde, ja schroff – bis in die letzte Reihe des voll besetzten Mittelschiffs hinein. Das Publikum lauschte mit großer Aufmerksamkeit, und am schönsten waren vielleicht die innigen Piano-Passagen und die Momente vollkommener Stille, wenn Beckmann am Ende eines Satzes behutsam den Bogen von den Saiten hob. In diesen Augenblicken ereignet sich, was Beckmann in einem wunderbaren Text über sein Instrument beschrieben hat:
„Das Entscheidende in einem Konzert ist nicht das Cello, nicht der Raum, nicht einmal der Spieler, sondern das Ereignis als solches. Damit das Ereignis authentisch und wahr wird, muss Harmonie entstehen. Der Raum, das Cello, der Spieler, die musikalische Aussage und die Umstände, unter denen diese Aussage getroffen wird: Alles muss sich vereinen. Dann können wir uns lösen von der Welt und werden – wie einst Orpheus – vom Ausführenden zum Geführten. Blickt der Geführte hinter sich, ist der Zauber vorbei. Schreitet er mutig voran ins Ungewisse, dann vergisst er den Raum, das Cello, die Musik, die Zeit, ja sich selbst. Dann widerfährt ihm die Gnade, für einen Moment das Unbewusste schauen zu dürfen. (…) Und hat er sein Spiel beendet, dann ist ihm nicht mehr bewusst, was er im Unbewussten sah. Denn das Unbewusste ist aus dem Bewussten nicht zu verstehen. So führt uns die Musik auf den Weg zum letzten Geheimnis. Wir dürfen es schauen, aber wir wissen nicht, wo wir waren: Ausnahmsweise durften wir den Ort besuchen, von dem aus der Mensch zum Leben erwacht und zu dem er in den Tod entschläft.
Dann tritt das ein, was Casals in Anlehnung an buddhistische Weltanschauung nannte: ES spielt.“
(Der Text „Mein Cello: ES spielt“ von Thomas Beckmann wurde den Konzertbesuchern am Eingang in Fotokopie ausgehändigt.)