Regine Nahrwold am 8. September 2011
Erich Fromm, Die Kunst des Liebens
Am Freitag letzter Woche bin ich mit einer Freundin nach Frankfurt gefahren, um – noch kurz vor Toresschluss – Francesco Clementes Ausstellung „Palimpsest“ in der Schirn Kunsthalle anzuschauen, in deren Mittelpunkt eine Serie von riesigen Aquarellen stand, über 300 x 150 cm groß. Diese großen Aquarelle ließen mir keine Ruhe, ich hatte von ihnen geträumt und „musste“ sie nun unbedingt noch sehen. Leider stellten sich diese Arbeiten, die sich aus Clementes Erfahrungen mit der Kultur und Kunst Indiens speisten und von denen alle immer wiederkehrend ein rotes Herz aufwiesen, für mich als Enttäuschung heraus. Ich fand sie kitschig und über weite Strecken auch schlecht gemalt – ganz im Gegensatz zu den ebenfalls sehr großen figürlichen Tuschpinselzeichnungen von Marlene Dumas, die in der Ausstellung „20 Jahre Gegenwart“ im Museum für Moderne Kunst zu sehen waren und von denen jede einzelne eine Sensation für sich ist.
Noch eine andere kleine Sensation habe ich an diesem Tag erlebt: Da ich den dicken Roman „1Q84“ von Haruki Murakami, den ich gerade lese, auf der Fahrt nicht mitschleppen wollte, griff ich, auf der Suche nach einem kleinen Buch, kurzerhand Erich Fromms „Die Kunst des Liebens“ von 1956 aus dem Regal. Ich hatte es Anfang der 1980er mal gelesen, und war nun bass erstaunt über meine Wiederentdeckung dieses klugen Buches, in dem so viel steht, das an Aktualität und Wahrheit seitdem nichts verloren hat. Zum Beispiel diese Absätze:
„Der moderne Kapitalismus braucht Menschen, die in großer Zahl reibungslos funktionieren, die immer mehr konsumieren wollen, deren Geschmack standarisiert ist und leicht vorausgesehen und beeinflußt werden kann. Er braucht Menschen, die sich frei und unabhängig vorkommen und meinen, für sie gebe es keine Autorität, keine Prinzipien und kein Gewissen – und die trotzdem bereit sind, sich kommandieren zu lassen, zu tun, was man von ihnen erwartet, und sich reibungslos in die Gesellschaftsmaschinerie einzufügen; Menschen, die sich führen lassen , ohne daß man Gewalt anwenden müßte, die sich ohne Führer führen lassen und die kein eigentliches Ziel haben außer dem, den Erwartungen zu entsprechen, in Bewegung zu bleiben, zu funktionieren und voranzukommen. (…) Unsere Zivilisation verfügt über so viele Betäubungsmittel, die den Leuten helfen, sich ihres Alleinseins nicht bewußt zu werden: Da ist vor allem die strenge Routine der bürokratischen, mechanischen Arbeit, die verhindern hilft, dass sich die Menschen ihres tiefsten Bedürfnissen, des Verlangens nach Transzendenz und Einheit, bewußt werden. Da die Arbeitsroutine hierzu nicht ausreicht, überwindet der Mensch seine unbewußte Verzweiflung durch die Routine des Vergnügens, durch den passiven Konsum von Tönen und Bildern, wie sie ihm die Vergnügungsindustrie bietet; außerdem durch die Befriedigung, ständig neue Dinge zu kaufen und diese bald wieder gegen andere auszuwechseln. (…) Des Menschen Glück besteht heute darin, ’seinen Spaß zu haben‘. Und man hat seinen Spaß, wenn man sich Gebrauchsgüter, Bilder, Essen, Trinken, Zigaretten, Menschen, Zeitschriften, Bücher und Filme ‚einverleibt‘, indem man alles konsumiert, alles verschlingt.“ (Ullstein Taschenbuch 35258, erschienen in der Reihe „Weltperspektiven“ 1980, S. 97ff.) Wie hat dieses Verschlingen in unseren beschleunigten Zeiten des TV, des Internet, der Handies und einer gigantischen Medienindustrie noch zugenommen! Mir erscheint alles wichtig, was diesem rasenden Strudel durch Langsamkeit und Innehalten etwas entgegensetzt…