Regine Nahrwold am 28. Mai 2013
„Wohin treibt die Kunst?“
Unter diesem Titel eines Aufsatzes von Julius Meier-Graefe aus dem Jahr 1913 diskutierten gestern im Kunstverein Braunschweig unter der Moderation von Christine Eichel der Dichter Durs Grünbein, Max Hollein, Direktor des Museums Städel, der Schirn Kunsthalle und des Liebighauses in Frankfurt, sowie Matthias Flügge, Rektor der Kunstakademie Dresden. Peter Weibel, Direktor des ZKM in Karlsruhe, war ebenfalls eingeladen, war aber kurzfristig verhindert. Im folgenden gebe ich den Verlauf des Gesprächs nach meinen Aufzeichnungen zusammengefasst wieder. Die Wiedergabe ist weder vollständig noch vollkommen korrekt im Wortlaut.
Eichel: 1913 war das Jahr, in dem die Uraufführung von Strawinskys „Le sacre du printemps“ einen Skandal auslöste, in dem Schönberg geohrfeigt wurde und Alban Bergs Oper „Lulu“ verboten wurde. Heute scheint Friedhofsstille zu herrschen. Kann Literatur heute noch provozieren?
Grünbein: Ja, Literatur kann Mentalitäten verändern. Man muss aber unterscheiden zwischen Skandalen wie dem, den „Shades of Grey“ auslöste – eine amerikanisierte, harmlose Variante von Verruchtheit – ob es sich um einen soziologischen Skandal handelt, z.B. die Steuerfahndung bei Georg Baselitz, oder um einen Skandal, der aus der Kunst kommt. Die Provokation als Mittel, Aufmerksamkeit zu erregen, ist nur von kurzer Dauer. Um 1913 wurde auf dem Feld der Kunst ein Kampf ausgetragen, aber es ging auch um anderes, z.B. Sexualität.
Hollein: Die Kunst hatte es 1913 schwer. Wer ist heute ein bedeutender Künstler, der sich gegen die Gesellschaft wendet? Ai Weiwei wäre zu nennen. Wir leben in einer Zeit der totalen Vereinnahmung der Kunst. Wenn alle gegen den Strom schwimmen, dann ist das der Strom.
Flügge: Avantgarde ist ein Begriff aus dem Militärischen, das war die Vorhut, die als erste Truppe Feindberührung hatte. Das hat also etwas mit Gefahr zu tun. Der Begriff ist heute nicht mehr von Bedeutung. Provokation findet heute nicht mehr im Saal, sondern in den Köpfen statt. Beispiele: Haacke, Schlingensief, Meese. Kunst kann Dinge in Bewegung setzen.
Eichel: Ein Schlingensief hat eine Pose eingenommen, sich als Clown und Hofnarr geriert. War 1913 das Jahr der Geburt eines neuen Künstlertypus?
Hollein: Die ungleich größeren Selbstdarsteller hat es im 19. Jahrhundert gegeben, z.B. Hans Makart. In der Zeit entstanden auch die Begriffe Genie und Originalität, Künstler begannen, sich als Außenseiter zu stilisieren. Damien Hirst’s Aktionen, mit denen er die Preise für seine eigenen Werke in die Höhe trieb, gehören heute zu den gewagtesten Provokationen.
Grünbein: Um 1913 gab es noch massive konservative Kräfte wie das Militär und die Kirche. Duchamp versetzte der Gesellschaft mit seinem ersten Readymade einen Schock. Heute wären vielleicht noch Skandale gegenüber der Wissenschaftsreligion möglich oder auch der Kirche. In allen anderen Bereichen ist die Akzeptanz sehr groß.
Hollein: 1913 gab es schon das Readymade, aber auch die Expessionisten sorgten noch für Schocks.
Eichel: Es gab aber auch Ereigniss von größerer Reichweite wie die Armory Show und Duchamps Gemälde „Akt, die Treppe hinabsteigend“.
Flügge: Der „Akt, die Treppe hinabsteigend“ war kein revolutionäres Werk. Wenn er schockierend wirkte, dann wegen des retardierenden Moments des Publikums. Revolutionärer war, dass Duchamp mit dem Readymade den Validierungsprozess der Kunst in Frage gestellt hat.
Grünbein: Die Kubisten haben den letzten Akt der Wahrnehmung in der Malerei vollzogen, bevor Duchamp den Sprung aus der Malerei gewagt hat. Dann kam der 1. Weltkrieg als synästhtetische Explosion, die alle Protagonisten umgedreht hat.
Hollein: Das Jahr 1913 war ja eigentlich gar keine so große Zäsur, erst rückblickend erscheint uns das durch den ersten Weltkrieg so konsequent. Und für Julius Meyer-Graefe, der zur ersten Avantgarde um den Impressionismus gehörte, war das Neue, der Expressionismus, eine Degeneration.
Im Folgenden ging es um Untergangsvisionen, Apokalypse und den Künstler als Seismograph. Flügge kam auf die apokalyptischen Stadtansichten Ludwig Meidners zu sprechen, die als Vorausschau auf die Katastrophe des 1. Weltkrieges interpretiert wurden.
Flügge: Die seismographische Zeitströmung und der Willensakt des Künstlers sind nicht zu trennen. Meier-Graefe, Karl Scheffler und Harry Graf Kessler gehörten zur ersten. Avantgarde. Die Ideologie des 1. Weltkriegs überwand dann die Grenzen, dem Bad aus Blut und Blei waren alle gemeinsam ausgesetzt. Bei Franz Marc findet man eine große Diskrepanz zwischen seiner Kunst und seinen kriegshetzerischen Briefen. So etwas gibt es auch heute noch.
Eichel: Hat sich in den 100 Jahren der Umgang mit der Krise verändert?
Grünbein: Die Apokalypse ist eine Variante der Kunst des Nordens, im Süden, bei z.B. Matisse oder Picasso gab es so etwas nicht. (Picasso hat seine erste Apokalypse, „Guernica“, 1937 gemalt, als Reaktion auf ein reales Ereignis.) In Rilkes „Malte Laurids Brigge“ findet sich der Satz „Ich lerne sehen“. Rilke lernte sehen, in Paris, an Cézanne. Dieser Geist geht hoffentlich auch heute noch über alle Apokalypsen hinweg!
Hollein: Die seismographische Kraft des Künstlers bedeutet ja nicht, dass diese die Zukunft vorhersagen konnten.
Eichel: Was war das für eine Kultur, die da um 1913 in Frage gestellt wurde? Musste da durch neue Impuls etwas revitalisiert werden?
Grünbein verweist auf Nietzsche, sagt, jemand wie Matisse habe das Malen erstmal verlernen müssen. In der Kunst müsse immer mal wieder etwas verlernt werden.
Eichel: 1913 bewirkte Malewitsch mit seinem „Schwarzen Quadrat“ – ursprünglich sogar ein Bühnenbild – die Befreiung der Kunst von den Dingen, von der Darstellung. Wie ist das später aufgenommen worden?
Flügge: Auch Malewitschs Malerei hat eine Quelle, die russische Ikonenmalerei mit ihren Goldgründen, die Verwurzelung in der Ostkirche. Das „Schwarze Quadrat“ ist auch auratisch, sakral.
Eichel: Ist das Parareligiöse der Kunst um 1913 heute abhanden gekommen?
Hollein: Es hat um 1913 erst begonnen, mit einer Entwicklung, in der die Kunst die Kirche abgelöst hat. (Als Beispiel für heute führte er Jeff Koons an.) Auch die Marktbewertung von Kunst hat damit etwas zu tun.
Eichel: Kunstbegeisterung wurde zum Religionsersatz und führte zum Widerspruch zwischen Kunst und Kommerz. Hat der Kommerz die Aura des Kunstwerks zerstört?
Grünbein: Anfang des 20. Jahrhunderts gab es einen solchen Kunstmarkt ja gar nicht, es gab lediglich ein paar einzelne, einflussreiche Kunsthändler. Heute haben wir eine Beschleunigung in allen Bereichen. Der Künstler (Namen nicht verstanden) reagierte darauf mit einer Faulheit, die man sich heute nicht mehr leisten kann. Heute sind die Studenten im Stress, neu ist die Verbindung von Schöpfertum mit PR.
Flügge: An der Kunstakademie Dresden haben wir einen „carreer service“. Dort lernen die Studenten, wie man sich in den Museen-, Kunst- und Ausstellungsszene verhält, dass man z.B. nicht in jede weiße Wand einen Nagel schlagen kann. Der Spruch „Die Kunstakademien sind die einzigen Orte, wo man lernen kann, ohne Arbeit reich zu werden“ stimmt heute nicht mehr. Die Studierenden müssen lernen, die Funktionspotenziale von Kunst zu verstehen.
Eichel: Wir wollen ja keine Kulturpessimisten sein, aber die heutigen Marktmechanismen sind schon manchmal unheimlich.
Hollein: Ich bin nicht pessimistisch. Die gewachsene Infrastruktur für Kunst birgt eine Fülle von Möglichkeiten. Die Anzahl der Museen und Kunststudenten ist ständig gewachsen. Die Auseinandersetzung in der Kunst, auch die mediale, beschleunigt. Junge Künstler müssen heute ihre Plattformen finden. Der Markt ist gespalten: einerseits explodiert er, aber dann gibt es auch eine Kunstszene, die damit überhaupt nichts zu tun hat. Aber es funktioniert, es existiert vieles nebeneinander.
Eichel: Der Kunstmarkt funktioniert heute ähnlich wie der Finanzmarkt. Werden dadurhc nicht Bedürfnisse geschaffen, die gar nicht mehr erfüllt werden können?
Grünbein: Bezogen auf die chinesische Kunst der 1990er, 2000er Jahre, die von westlichen Sammlern begierig gekauft wurde, hat ein chinesischer Dichter mal vom Erfolg der Fälschung gesprochen. Durch die Beschleunigung passiert auch innerhalb der Kunst vieles: Die Entwicklung geht weg vom statischen Kunstwerk, hin zu Bewegung, Multimedia. Die Dauer der Arbeitszeit am einzelnen Kunstwerk ist gesunken.
Eichel: Peter Weibel hat vom Trend zum Verschwinden des Künstlers, zur Anonymisierung im Internet gesprochen.
Flügge: Es gibt zeitbasierte Kunst, die vorübergehend ist. Digitalisierung und Partizipation bewirken eine andere Schichtung. Es gibt einen Künstler, der einen Satz aus 100 Worten geschaffen hat. Diese Worte hat er an 100 Sammler verschickt. Der Satz könnte nur zusammengesetzt werden, wenn all 100 Sammler sich treffen, denn niemand außer dem Künstler kennt ihn. In Dresden entsteht dagegen wieder eine Aktivität im Klassischen. Die eigentlichen Wertbildungsprozesse sind verschwunden: Es gibt keine Kunstkritik mehr, nur noch den Bericht, die Museen geraten immer mehr in die Hand von Sammlern. Es gibt den Kunstkauf, der der Ritualisierung des Aktes des Geldausgebens dient.
Hollein: Die Sammler hatten schon immer eine große Bedeutung für die Museen (MoMa, Guggenheim). Den Zustand, den wir uns als Idealform wünschen, wird es wohl nie geben.
Flügge: Man kann das Sammlertum heute nicht mehr über einen Kamm scheren.
Hollein: Ich kann nicht feststellen, dass der technologische Fortschritt die Kunst antreibt.
Grünbein: Der Künstler giert nach dem Diskurs. Der wirkliche Dichter ist heute immer noch einsam. In der Literatur gibt es heute das System der Agenten, in den USA noch mehr als in Deutschland. Früher war die Literatur oft Impulsgeber für die Kunst. Heute lesen die Studierenden oft Lektüre für 15jährige (Harry Potter).
Flügge: Ein Künstler wie Carlfried Claus hat sich ganz stark von Literatur anregen lassen. Heute bleiben die Studierenden ganz eng im Bereich des Persönlichen.
Hollein: Um 1913 wurden die Künstler durch die Opposition gegen alles andere zusammengeschweißt, hatten einen engen Austausch untereinander.
Flügge. Vielleicht gibt es heute nichts Gemeinsames mehr durchzusetzen.
Grünbein: Die zwangsläufige Vereinzelung vor dem Bildschirm hat nichts mit Individualisierung zu tun. Nur ein originärer Einzelner kann aus dem Mainstream ausbrechen.