Regine Nahrwold am 21. Juli 2014
Alain de Botton: „Art is Therapy!“
„Kunst ist Therapie“ – unter diesem Motto stand im Frühjahr dieses Jahres eine Ausstellung im Amsterdamer Rijksmuseum, kuratiert von dem in London lebenden Schweizer Philosophen Alain de Botton. Genauer gesagt: Es war keine eigene Ausstellung, sondern de Botton hat über 100 Kunstwerke und Objekte des Museums mit speziellen Erläuterungen versehen, gedruckt auf übergroße gelbe Post-its. Dabei hat er das in Museen übliche Schema – Wer hat das Bild wann gemalt? In welcher Technik? Wie ist seine Position in der Kunstgeschichte? Was ist seine Botschaft? – verlassen, um seinem eigenen Konzept „Kunst ist Therapie“ zu folgen. Damit ersetzt er den kunsthistorischen Blick durch einen radikal subjektiven des Betrachters, dem – jenseits aller Geschichtlichkeit von Kunst – ein Werk zum unmittelbaren Echo auf eigene existentielle Fragen und Befindlichkeiten wird. „Für ihn ist Kunst vor allem Lebenshilfe. In ihr, so sagt er, können wir unserem besseren Ich begegnen. Wenn ein Bild, ein Objekt uns berührt, dann deshalb, weil etwas darin aufscheint, das uns mangelt, etwas, nach dem wir uns sehnen.“ (Hanno Rauterberg in seiner – übrigens recht kritischen – Rezension „Rembrandt gegen Depressionen“, DIE ZEIT Nr. 22 vom 22. 5. 2014).
Seinen Ansatz, den ich sehr bemerkenswert finde, hat Alain de Botton in einem Vortrag im Rijksmuseum erläutert, den ich hier in großen Zügen wiedergebe:
Im 19. Jahrhundert hat sich, im Zuge der Säkularisierung, die Rolle des Museums verändert. Die Menschen gingen nicht mehr zur Kirche, sondern in die Museen, von denen eine große Zahl in dieser Zeit gegründet wurde. Das Museum wurde zur neuen Kathedrale, und in der Tat bietet die Kunst uns vieles, was wir aus der Religion kennen:
- das Gefühl von Gemeinschaft
- Ethik
- das Gefühl, geleitet zu werden
- Trost für die Mühsal unseres Lebens
- sie macht uns vertraut mit den dunklen Seiten der Existenz.
So forderten auch Kunsttheoretiker ds 19. Jahrhunderts wie John Ruskin oder Matthew Arnold, die Heilige Schrift durch Bilder zu ersetzen.
Unserer heutiger Umgang mit Kunst ist akademisch und von Distanz (coolness) geprägt. Kunst lebt ein eigenes Leben, abgeschlossen in einem Raum für sich; sie ist engigmatisch, privat und nicht politisch. Wir sollten uns dagegen auf eine frühere Idee von Kunst besinnen, auf ihre erzieherische (didactic) Kraft, als Antwort auf unsere Fragen, wie wir leben und sterben sollen. Daran glaubten die Künstler, das war der Sinn der Werke, nicht nur der religiösen.
Das Ziel von Therapie ist nicht der allzeit glückliche Mensch, sondern die reife Persönlichkeit. Dazu ist es nötig, sich vertraut zu machen mit den Tragödien, die dem Vertrag des Lebens eingeschrieben sind. De Botton sieht eine Krise in der gegenwärtigen Kunst, eine Krise der Dekadenz. Kunst wird heutzutage sehr geschätzt: lange Schlangen vor den Museen, Höchstpreise bei Sotheby’s und Christie’s. Aber wir können nicht genau erklären, ws wir von Kunst erwarten, und das ist Ausdruck einer Gesellschaft, die ihre tieferen Bedürfnisse nicht versteht. Botton zitiert Mark Rothko, der von einem etwas unterbelichteten (dim) Journalisten gefragt wurde, worum es in seiner Kunst gehe, und der schließlich genervt sagte: „Meine Leinwände sind eine Gelegenheit für die Traurigkeit in mir, der Traurigkeit in Dir zu begegnen, und so sind wir weniger einsam.“ Von mehreren Funktionen, die Kunst haben kann, ist dies die erste:
- Kunst ist eine Möglichkeit, weniger einsam zu sein.
- Kunst bewahrt Erinnerung. So hat etwa Constable das flüchtige Phänomen des Wolkenhimmels festgehalten, und die Atmosphäre einer amerikanischen Landschaft kann man als „hopperesk“ empfinden, wenn sie einen an Gemälde von Edward Hopper erinnert.
Das Problem von Museen ist heute: Wir gehen ins Museum, aber wir brauchen die Kunst nicht. Wir gehen in den Ferien dorthin, in entspannter, fröhlicher Stimmung. Aber die Botschaft, die Kunst für uns bereithält, richtet sich sehr oft an ziemlich extreme emotionale Zustände.
- Kunst ist schön (pretty) und macht Freude. Die Kunstkritik des 20. Jahrhunderts schätzt diese Eigenschaft nicht besonders, ist ernst und zieht eine Kunst vor, die uns mit den dunklen Seiten des Lebens vertraut macht. Aber schöne Kunstwerke transportieren Hoffnung! Beispiel: der Franzose Fantin-Latour, der an einer schweren Krankheit litt und auch sonst jede Menge Probleme hatte, und dennoch wunderbare Blumenbilder malte. (Nur jemand, der gelitten hat, weiß die Schönheit einer Blume zu schätzen.)
- Kunst ist ein Medium, in dem wir unseren Schmerz, unsere ganz persönlichen Stimmungen erfahren können. Wir sind oft genug allein mit unserem Leid, wodurch sich dieses noch vergrößert. Kunst kann ein Echo für unser Leid sein, aber ein Echo mit Würde/Erhabenheit/ Seelengröße (dignity). Es tut sehr gut, Kunst zu betrachten, die diese Stimmung anerkennt, zum Beispiel Caspar David Friedrich oder Richard Serras „Fernando Pessoa“. Solche Kunstwerke bedrücken nicht, sondern erlösen uns von unserer Einsamkeit wie eine Bach-Kantate oder ein Song von Leonhard Cohen.
Die Kunstgeschmäcker sind sehr verschieden und vielfältig; das muss man nicht verurteilen, sondern sollte den Leuten ihren Geschmack lassen. Die Kunst, die wir lieben, umfasst in konzentrierter Form Eigenschaften und Tugenden des Charakters, Orientierungen, Stimmungen, von denen wir uns tief angezogen fühlen. Aber wir haben zu wenig davon in unserem wirklichen Leben, in unserem eigenen Charakter. Und wenn wir das außer uns in der Kunst sehen, haben wir es mit einer Art Ideal zu tun, das außerhalb unserer Reichweite ist. Wenn wir von einem Kunstwerk bewegt, berührt sind, dann sehen wir ein kleines Stück vom Paradies, irgendwo anders, aber wir haben es nicht im Griff. Das Gefühl, der Schmerz, der die Schönheit begleitet, wurzelt in dem Bewusstsein, dass die dargestellte Schönheit nicht unbedingt in unserem Leben gegenwärtig ist. Und darum kann uns manche Kunst glücklich und traurig zugleich machen.
Unser Geschmack speist sich aus Defiziten, auch gesellschaftlichen Defiziten, die natürlich auch der Veränderung unterliegen (Beispiel: Das Modell-Dorf der französischen Königin Marie Antoinette als Ausdruck einer Sehnsucht nach dem einfachen Leben). Die Frage: „Was hat Dich am meisten berührt?“ ist der Königsweg zu den tieferen Schichten unseres Selbst.
- Kunst kann unserer hektischen Betriebsamkeit, dem Chaos Ruhe entgegensetzen (und ich selbst füge hinzu: umgekehrt gilt das genauso, wie Adorno gesagt hat: „Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen.“)
- Kunst kann warnen und ermutigen. So sind Höllendarstellungen Teil einer Propaganda im Namen der christlichen Philosophie.
De Botton benutzt im Folgenden das Wort Propaganda (das ich wegen der Konnotation „politische Propaganda“ für sehr unglücklich halte) für verschiedene Kunstwerke, so etwa für eine Buddha-Statue, deren Ruhe und Gelassenheit man nacheifern soll (religiöse Propaganda) oder für ein weibliches Portrait von Ingres, das eine bestimmte Lebenshaltung, einen bestimmten Charakter verkörpert; ein mittelalterliches koreanisches Gefäß, nicht ganz regelmäßig geraten, lehrt uns: Das ist nicht schlimm, denn so ist das Leben auch. Wir versuchen nicht, das Gefäß perfekt zu machen, sondern genießen seine Unvollkommenheit.
- Wenn wir mit der Gewöhnlichkeit und Langeweile unseres täglichen Alltags hadern und uns nach Glamour sehen, kann uns die holländische Malerei des 17. Jahrhunderts beibringen, dass das gewöhnliche Leben genug und voller Würde ist. Damals gab es etliche Ideale vom guten Leben: das aristokratische, das religiöse (Heilige und Märtyrer) und das militärische. Dahinein brachte die holländische Malerei eine neue, ungewöhnliche Sicht: zu Hause zu bleiben und die Wäsche zu besorgen, ist schon interessant genug! Das ist auch ein Stück politische Propaganda, denn die neue Republik basierte auf der Einheit der Familie. Auf diesem Gebiet hat das Rijksmuseum genug Lektionen parat.
- Stilleben (und auch Landschaften) zeigen uns reizüberfluteten, hyperkommerzialisierten und gelangweilten Konsumenten den Reiz und die Schönheit der Dinge, die für uns heute ganz alltäglich und einfach sind (z. B. eine Schüssel voller Erdbeeren, 1696 gemalt von Adriaen Coorte, in dem die Früchte wie etwas ganz Kostbares erscheinen, oder das Bündel Spargel von Manet).
Entstehungszeit, Epochen und Kunststile, nach denen in aller Welt die Objekte in den Museen angeordnet sind, sind gar nicht so bedeutsam. Viel interessanter wären Themenräume wie sie zum Beispiel die Frarikirche in Venedig darstellt: Hinsichtich der Chronology ist sie ein wahres Durcheinander, aber die verschiedenen Kunstwerke verbindet das Thema „Wie kann ich meine Seele erlösen mit Hilfe von Jesus Christus?“ Botton selbst fände Ausstellungsräume zu Themen wie Angst, Vergänglichkeit/Tod, Liebe oder Politik spannend.
Wir lieben die Kunst, weil unser Leben so unvollkommen ist; darum betonen wir diese kleinen perfekten Momente im Museum. Wir sollten danach streben, die Welt besser zu machen; Kunstwerke (und ihre Ideale) sollten dazu dienen, uns selbst und die Gesellschaft in eine optimale Richtung weiterzuentwickeln.