Regine Nahrwold am 30. September 2014
Ausstellung „ruhezone“ von Astrid Brandt im Kunstverein Wolfenbüttel
„Tango“, 2004
„Wir möchten uns gerne mal die Fotografien anschauen!“ Mit diesem Satz betreten zur Zeit viele Leute den Kunstverein Wolfenbüttel, nachdem sie im Vorbeigehen einen Blick in die Fenster geworfen haben. Doch weit gefehlt: Nicht Fotografien sind’s, die dort an den Wänden hängen, sondern hyperrealistische Schwarzweißzeichnungen von Astrid Brandt. Menschenleere Interieurs und Stillleben stellen sie dar, doch zögert man schon, das Wort „Stillleben“ als klassische Bezeichnung für eine Kunstgattung auf Brandts Arbeiten anzuwenden, so sehr verwandelt die Künstlerin das Gesehene. Ihre Dingwelt setzt sich aus banalen Alltagsgegenständen zusammen: Nähzeug, Tortendeckchen, Streichhölzer und häufig Büromaterialien wie Aktenordner, Heftstreifen, Bleistifte, Radiergummis oder halbleere Tintenpatronen. Diese werden mit genauem Kalkül auf einer scheinbar unendlichen Ebene miteinander arrangiert und, meist in Nahsicht und von oben, in den Blick genommen. Kleines erscheint so monumental groß, die Dinge führen ein seltsames Eigenleben, werden zu skurrilen, teils technoiden, teils animalischen Wesen.
„Limbo“, 2010
Der Bleistift ertastet akkurat die Formen der perspektivisch konstruierten Räume, Gegenstände und Möbel, vertieft sich gründlich in ihre glatten oder rauen, transparenten oder opaken Oberflächen, gibt exakt die Materialien und Strukturen, Schatten und Reflexlichter wieder. (Die erste Zeichnung der Ausstellung stellt das Trompe l’oeil eines textilen Gewebes dar.) Und gleichzeitig sieht man förmlich das Graphit auf den Höhen und in den Vertiefungen der Papierstruktur liegen und nimmt somit die Fülle der konkreten Wirklichkeit als Zeichnung wahr. Dieser Umstand und die Farblosigkeit der Blätter geben ihnen zugleich etwas Abstraktes: Je näher wir den dargestellten Interieurs und Dingen kommen, desto weiter rücken sie von uns ab, werden fremd und fern. Dies trifft vor allem auf die Räume zu, die kaum Spuren von menschlicher Anwesenheit zeigen, sondern – total aufgeräumt und unberührt – eine lautlose, unheimliche Kühle verströmen. Jeden Moment scheint eine Katastrophe über diese Akkuratesse hereinbrechen zu können. Astrid Brandt zeichnet ihre Interieurs oft nach Einrichtungskatalogen der 1960er Jahre und wählt dabei reizvolle An- und Ausschnitte. Das Diptychon „Chaise longue“ von 2006 könnte im Overlook-Hotel aus Stanley Kubricks „Shining“ entstanden sein, und auch die Schreibmaschine von Jack Nicholson könnte zu Astrid Brandts Dingwelt gehören…
(Bis 26. 10. 2014, Öffnungszeiten: Di-Fr 16-18 Uhr, Sa und So 11-13 Uhr; kostenlose Führung: 16. 10., 19 Uhr; Künstlergespräch am 26. 10., 11.30 Uhr)
Rechter Teil des Diptychons „Chaise longue“, 2006