Regine Nahrwold am 14. Oktober 2014
Herman Melville: Moby Dick
Dieses Jahr habe ich endlich mal wieder mein absolutes Lieblingsbuch gelesen: „Moby Dick“ von Herman Melville, und zwar in der Übersetzung von Friedhelm Ratjen, 2004 erschienen bei Zweitausendeins, illustriert von Rockwell Kent. (Manchmal habe ich parallel dazu das amerikanische Original dazu zur Hand genommen.) Und wieder hat mich diese gewaltige, vielschichtige und welthaltige Erzählung völlig in ihren Bann geschlagen.
Die Haupthandlung bildet die Geschichte des Walfängers „Pequod“ und ihres von Rachsucht bessenen Kapitäns Ahab. Er will um jeden Preise den weißen Wal töten, der ihm einst sein Bein abgerissen hat, und schwört mit dämonischem Charisma die Mannschaft auf dieses Ziel ein (Kapitel „Die Dublone“ und „Die Kerzen“). Schiff und Mannschaft wird er – das ahnt der Leser von Anfang an – unerbittlich in den Untergang treiben. Nur einer überlebt die Katastrophe: der, der die Geschichte im Rückblick erzählt. Der berühmte erste Satz des Romans lautet: „Nennt mich Ismael.“ Das erste Kapitel beginnt mit Ismaels Entschluss, mal wieder zur See zu fahren, um seiner Trübsal zu entgehen („Das ist mein Ersatz für Pistole und Kugel“) und auf einem Walfänger anzuheuern. Es folgt der kuriose Beginn seiner Freundschaft mit dem über und über tätowierten Südseeinsulaner Quequeg, der als Harpunier mit Ismael zusammen die Schicksalsfahrt der „Pequod“ miterleben wird. Quequeg ist eine großartige Figur: kühn, mutig, tapfer und durch und durch loyal – ein „edler Wilder“, ebenso wie die beiden anderen Harpuniere, der Indianer Tashtego und der Schwarze Daggoo.
Neben den drei Harpunieren gibt es an Bord drei Maate: Der erste, Starbuck, ist ein ernster, vernünftiger und verantwortungsbewusster Mann, der als einziger in voller Klarheit durchschaut, dass Ahab das Schiff, die Mannschaft und seinen Auftrag für seinen privaten Rachefeldzug missbraucht, und einmal sogar mit dem Gedanken spielt, ihn zu töten, um das kommende Unheil zu verhindern; der zweite, Stubb, ist ein lustiger, lebensfroher Draufgänger; der dritte, Flask, ist redlich, aber auch etwas beschränkt. Eine unheimliche Gestalt ist der Parse (Perser) Fedallah, der Ahab wie ein düsterer Sendbote der Unterwelt zugesellt ist. Des weiteren ist der kleine Schiffsjunge Pip zu erwähnen, der einmal bei der Waljagd über Bord geht, längere Zeit mutterseelenallein auf dem Ozean umhertreibt und daraufhin verrückt wird. Wie Melville seinen Wahnsinn schildert und welche Gedanken er dazu äußert, ist herzzerreißend.
Die Zahl drei spielt eine große Rolle: Drei Harpuniere, drei Maate, drei Mal begegnet die „Pequod“ einem anderen Schiff, drei Tage dauert endlich der Kampf mit Moby Dick, dem weißen Wal…
Neben den Kapiteln, die die eigentliche Handlung vorantreiben (und auf die der Film mit Gregory Peck den Roman reduziert), gibt es zahlreiche Kapitel mit „Sachbuchcharakter“. In ihnen geht es um Walkunde, um die Geschichte des Walfangs, um das Handwerk des Jagens und Erlegens des Wals sowie die dazu nötigen Gerätschaften, um das Abspecken, die Trankocherei usw. Aber was auch immer geschildert wird: immer ist da, durchwoben von mythischen und biblischen Bildern, eine metaphorische Ebene, die das Beschriebene zu einem Gleichnis des menschlichen Schicksals werden lässt. Das macht den Roman so großartig und zeitlos gültig. In diesen Passagen gleicht er einer gewaltigen Predigt.
Viele Kapitel stellen in sich abgeschlossene Essays oder Erzählungen dar, z.B. die wunderbare Abhandlung über die Weiße des Wals oder die Geschichte des Schiffes Town-Ho. Auch finden sich – lange vor Molly Bloom in James Joyce’s „Ulysses“ – innere Monologe, etwa von Ahab, Starbuck und Stubb. Manche Kapitel sind 25 Seiten lang, das kürzeste, „Mitternacht hochdroben, Blitz und Donner“, umfasst nur sieben Sätze: „Hum, hum, hum. Lass das Gedonner nach! Reichlich zuviel Gedonner hier oben. Wozu ist Donner gut? Hum, hum, hum. Wir wollen keinen Donner; wir wollen Rum; her mit ’nem Glas Rum. Hum, hum, hum!“
Zu meinen Lieblingskapiteln zählen „Die Weiße des Wals“, „Zisternen und Pützen“ (Tashtego stürzt beim Schöpfen des kostbaren, duftenden Walrats aus dem „Heidelburgher Fass“ im Kopf des erlegten Wals in dieses hinein und wird von Quequeg gerettet), „Die große Armada“ (ein Boot gerät beim Verfolgen eines Wals in den inneren Kreis der ganzen Herde hinein, wo trächtige Weibchen und Walmütter mit ihren Jungen friedlich umeinander treiben) und „Die Trankocherei“. (Ismael schläft an der Ruderpinne für einen Moment ein, hat beim Erwachen jegliche Orientierung verloren und ist völlig verwirrt).
Was ich mit der metaphorischen Ebene meine, sei an einem Beispiel verdeutlicht. Im Kapitel „Verstauen und Aufklaren“ geht es um die Reinigung des Decks, nachdem der Wal abgespeckt und zerlegt, der Tran gekocht und in Fässern im Bauch des Schiffes verstaut worden ist. Doch kaum ist die harte Arbeit getan, ertönt womöglich erneut „der Ruf des ‚Da bläst er!‘ und los jagen sie, um gegen einen weiteren Wal zu kämpfen und die ganze erschöpfende Geschichte von Neuem zu durchlaufen. Oh! meine Freunde, das ist doch Menschenmord! Aber das ist das Leben. Denn kaum erst haben wir Sterbliche vermöge langer Mühsal aus der riesigen Leibesmasse dieser Welt deren wenigen, doch unschätzbaren Walrat herausgeholt; und uns dann mit überdrüssiger Geduld selbst von seinen Verunreinigungen gesäubert und gelernt, hier in den sauberen Tabernakeln der Seele zu leben; kaum erst ist dieses vollbracht, als – Da bläst er! – der Geist ausgeblasen wird, und hinweg segeln wir, um gegen irgendeine andere Welt zu kämpfen und des jungen Lebens alten gewohnheitsmäßigen Gang von neuem zu durchlaufen.“