Regine Nahrwold am 28. Dezember 2014
Im Labyrinth des Schweigens
Letzte Woche im Kino gesehen: „Im Labyrinth des Schweigens“ von Giulio Ricciarelli, im November dieses Jahres in die deutschen Kinos gekommen. Das Thema des (leider sehr stark auf 1950er-Jahre-Mode getrimmten) Films ist die Vorgeschichte der Frankfurter Auschwitzprozesse, die 1963 beginnen, das Nichtwissen und Nichtwissenwollen der Deutschen, was die Verbrechen der Nationalsozialisten angeht.
Der Film beginnt damit, dass ein Auschwitz-Überlebender, der Maler Simon Kirsch, in einem Lehrer einen ehemaligen SS-Mann wiedererkennt. Kirschs Freund, der Journalist Thomas Gnielka, will diesen Lehrer anzeigen, doch die Juristen, denen er dieses Anliegen vorbringt, wiegeln ihn ab, seine Anzeige landet zerknüllt im Papierkorb. Nur der junge Staatsanwalt Johann Radmann (Alexander Fehling) ist berührt und fischt die Anzeige aus dem Papierkorb. Er, der bis dato lediglich harmlose Verkehrsdelikte verhandelt hat, geht der Sache nach und bringt damit einen Stein ins Rollen. Unterstützt wird er von Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (in dieser Rolle glänzt Gert Voss, der die Filmaufnahmen, die es von Bauer gibt, gründlich studiert haben muss). Er wird dem jungen, unerfahrenen Juristen mit aller, keinen Widerspruch duldenden Entschiedenheit sagen: „Sie werden diese Ermittlungen nicht nur durchführen, Sie werden sie leiten!“
Radmann und Gnielka finden bei Kirsch, dessen Zwillinge in Auschwitz von Josef Mengele für medizinische Experimente missbraucht und ermordet wurden, eine Liste mit SS-Leuten, die Gefangene getötet haben. Um diese aufzutreiben, durchwühlen Radmann, sein – anfangs widerwilliger, dann immer stärker überzeugter – Assistent Otto Haller und seine Sekretärin sämtliche Telefonbücher der Bundesrepublik. Dazu kommen Recherchen im Document Center, dem von den Amerikanern verwalteten Archiv der NSDAP, wo u.a. Personalakten von 20.000 SS-Leuten lagern. Die drei finden Zeugen, Opfer, deren Aussagen sie erschüttert anhören. Trotz des Widerstands von Kollegen („Diese SS-Leute waren doch auch nur Soldaten, die Befehle ausführen mussten.“) und Behörden, die seine Aufträge und Anfragen sabotieren, kann Radmann die ersten Täter verhaften lassen, u. a. Robert Mulka, den Adjutanten des Lagerkommandanten Rudolf Höss.
Viel Wert legt der Film auf die persönliche Entwicklung Radmanns, der mit seiner großen Aufgabe wächst, aber auch von Zweifeln erfüllt ist und zeitweilig zu scheitern droht. Er beginnt zu trinken, die Beziehung zu seiner Freundin, die mit ihrem boomenden Modeatelier am deutschen Wirtschaftswunder teilhat und auch die Ehefrauen ehemaliger NS-Größen einkleidet, zerbricht. Er findet heraus, dass der Journalist Gnielka selbst Wachmann in Auschwitz war und nur daher weiß, was die Wendung „auf der Flucht erschossen“ bedeutet. Er muss erkennen, dass auch sein Vater, den er als moralische Autorität verehrt, Mitglied der NSDAP gewesen ist. Er will Rache für die ermordeten Zwillinge Simon Kirschs, verfolgt im Alleingang fanatisch sein Ziel, Mengele festzunehmen, und schlägt fehl. (Bauer und der Mossad konzentrieren sich auf Adolf Eichmann, der 1960 in Argentinien gefasst wird, und nehmen dafür in Kauf, dass Mengele ihnen erstmal entgeht.) Als ihm der Oberstaatsanwalt Friedberg (Robert Hunger-Bühler) eine verlockende Stelle bei einer sehr erfolgreichen Frankfurter Kanzlei anbietet (um ihn auf diese elegante Weise aus dem Weg zu räumen), nimmt Radmann zunächst an. Als er jedoch mit einem Anwalt zusammenarbeiten soll, der die Selektion an der Rampe gutgeheißen hatte, kehrt er zur Staatsanwaltschaft zurück und nimmt seine große Aufgabe endgültig an: Zusammen mit seinem Kollegen Haller leitet er den 1963 beginnenden Prozess. Der Film endet mit dem Moment, da beide den Gerichtssaal betreten.
Was mich an dem Film besonders berührt hat, war der Gedanke: Das ist genau die Zeit meiner Kindheit, in dieser Atmosphäre des Nichtwissens und Nichtwissenwollens bin ich groß geworden. Wann habe ich das erste Mal etwas von Nazi-Verbrechen erfahren? Ich glaube, es war 1969, als ich 13 Jahre alt war. Damals schenkte mein Schwager seiner Schwester zur Konfirmation ein Buch mit Fotos von KZ-Opfern – den Schock, den es mir versetzt hat, werde ich nie vergessen! Im übrigen war auch dieses – grausame – Konfirmationsgeschenk ein Akt des Protestes gegen die verlogene bürgerliche Moral der Eltern. In der Schule hatten wir dann einen hervorragenden Deutsch- und Geschichtsunterricht bei dem hochengagierten Dr. Hans Gressel, der nichts beschönigte. Und auch ich habe, wie viele meiner Generation und der 1968er, meine Eltern bedrängt mit der Frage, was sie denn in der Nazizeit gemacht haben…