Regine Nahrwold am 24. Februar 2015
Ausstellung „Real – Surreal“ im Kunstmuseum Wolfsburg
Seit seiner Gründung Anfang der 199oer Jahre zeichnet sich das Kunstmuseum Wolfsburg durch seine hervorragenden Fotoausstellungen aus: Nan Goldin, Richard Avedon, Lee Miller, Brassaï, Steve McCurry, um nur die Namen zu nennen, die mir spontan einfallen. Auch Real-Surreal. Das neue Sehen 1920-1950 – noch bis zum 4. April zu sehen – gehört dazu. Nach einem kurzen „Vorspann“ zur – im Großen und Ganzen – realistisch zu nennenden Fotografie des 19. Jahrhunderts, gliedert sich die Schau um die drei großen Hauptstädte des neuen Sehens: Paris, Berlin und Prag. (Letzteres fand ich besonders spannend, denn diese tschechischen KünstlerInnen kannte ich noch nicht.) Zu sehen sind Arbeiten aus der Sammlung Dietmar Siegert, von Eugène Atget, Herbert Bayer, Hans Bellmer, Aenne Biermann, Brassaï, František Drtikol, Jaromír Funke, Florence Henri, André Kertész, Germaine Krull, Herbert List, Man Ray, Dora Maar, László Moholy-Nagy, Albert Renger-Patzsch, August Sander, Josef Sudek, Maurice Tabard, Raoul Ubac, Umbo, Wols u. a. Ein Raum mit zeitgenössischen Fotografien (Araki, Jeff Wall u.a.) aus dem Bestand des Kunstmuseums schließt die Ausstellung ab.
Eine oft wiederholte These lautet: Die Fotografie habe der Malerei die Aufgabe, die Wirklichkeit realistisch abzubilden, sozusagen abgenommen und damit der Ungegenständlichkeit und Abstraktion der Malerei im 20. Jahrhundert den Weg gebahnt. Das mag für die Frühzeit der Fotografie, die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, stimmen, und natürlich ist und bleibt der nüchtern -sachliche, dokumentarische Aspekt der Fotografie eine wesentliche Facette dieses Mediums. “Real-Surreal” zeigt jedoch nicht nur die Bildwelt der Neuen Sachlichkeit, sondern stellt dar, dass der Fotografie – genauso wie der Malerei – das Potenzial innewohnt, die Oberfläche der Dinge zu durchdringen und in dahinterliegende Schichten vorzustoßen. Auswahl und evt. Inszenierung des Motivs, Begrenzung/Ausschnitt, Standpunkt/Perspektive, nah/fern, scharf/verschwommen, Licht/Schatten sind dabei die Parameter der Bildgestaltung; dazu kommen spezifisch fotografische Techniken wie Fotogramm, Solarisation, Rayografie und Fotomontage.
Verläuft die Entwicklung von Malerei und Fotografie nicht vielmehr parallel als gegensätzlich aufeinander bezogen? “Real-Surreal” zeigt, dass nicht das Was (des Motivs), sondern das Wie (der künstlerischen Gestaltung) auch in der Fotografie die reine Reproduktion von Wirklichkeit durchbrechen, sie verfremden, verdichten, verwandeln kann.
Ein Schachtelhalm wird zum Turm (Karl Blossfeldt, Equisetum hyemale Winterschachtelhalm, 1900-1926). Die Kamera blickt aus der Vogelperspektive auf ein kleines Mädchen und seinen Schatten herab, beides erscheint in der Umgebung winzig und doch prägnant (László Moholy-Nagy, Livia in Dessau, 1927). Ein trinkendes Kind hält die große Tasse so vor das Gesicht, dass dieses halb verdeckt wird – Begegnung zweier Planeten (Aenne Biermann, Tochter, um 1930). Eine verschrumpelte Kartoffel schwebt im Gegenlicht vor freiem Himmel wie ein Ufo, ihre pelzigen Triebe wuchern dem Betrachter bedrohlich entgegen (Brassaï, Gelegenheitsmagie (Keimende Kartoffel), 1931); Hände wachsen aus der Erde, recken sich einem riesigen Auge entgegen, das wie eine Sonne über der Landschaft aufgegangen ist (Grete Stern, Das ewige Auge, um 1950)
Da ich aus urheberrechtlichen Gründen die ausgestellten Fotografien hier nicht zeigen kann, an ihrer Stelle hier einige Zitate von Fotografen, die im Katalog und in der Ausstellung (als Wandtexte) wiedergegeben sind:
„aber in dem fotografischen verfahren liegt unendlich viel mehr. bei der heutigen fotografischen arbeit kommt es zunächst nur darauf an, aus der eigengesetzlichkeit der mittel ein entsprechendens verfahren herauszufinden: erst dann, wenn eine einigermassen exake sprache des fotografischen entwickelt ist, wird der wirklich begabte sie zur ‚kunst‘ steigern können.“ (László Moholy-Nagy)
„Die Sehnsucht des Geistes führt über die Wirklichkeitserscheinung hinaus zu einer Überrealität der Dinge und ihrer Beziehungen. (…) Heute wollen wir die Realität nicht mehr fliehen, sondern maßen uns an, sie zu beherrschen, aber wir haben langsam erkennen müssen, daß das Wesen hinter der Erscheinung der Dinge zu suchen ist.“ (Herbert Bayer)
„Man betrachtete meine Fotografien als ’surrealistisch‘, weil sie ein geisterhaftes, in Nacht und Nebel getauchtes Paris zum Vorschein brachten. Der Surrealismus meiner Bilder war aber nichts anderes als das durch die Sichtweise phantastisch gewendete Wirkliche. Ich wollte nur die Realität zum Ausdruck bringen, denn nichts ist surrealer als sie.“
„Jeder, der ein Gespür für das Übersinnliche hat, wird zugeben müssen, dass der Fotografie bei aller Technik eine tiefe Magie innewohnt.“ (Herbert List)
„Ich bin fotografiere nicht die Natur, sondern meine Fantasie.“ (Man Ray)
„Oftmals betrachte ich das, was ich sehe, mit geschlossenen Augen.“ (Wols)
„Wir sind Photographen, wir sind mehr als bloße Photographen, wir sind Bildschöpfer und Vertreter des höchsten Niveaus, das die Photographie bislang bei uns erreicht hat. Als Verteidiger der modernen Tendenzen in der Photographie machen wir uns frei von den Abhängigkeiten, die aus dem leblosen Kopieren der Realität erwachsen.“ (František Drtikol und Jaromír Funke)