Regine Nahrwold am 28. März 2015
HP Zimmer: Kunst in den 1980ern – introvertiert oder intravenös?
Heute und morgen letzte Gelegenheit, die schöne Ausstellung „Steckbrief“, eine Retrospektive von HP Zimmer (1936-1992) in der Städtischen Galerie Wolfsburg zu besuchen!! Gezeigt werden die experimentierfreudigen, anarchischen, immer jungen Bilder, Zeichnungen und Objekte des Professors an der HBK Braunschweig, der 1992 mit 56 Jahren viel zu früh gestorben ist. Mir gefiel besonders gut eine Wand mit Briefen und Tagebuchauszügen, die in sehr lebendiger Weise Aufschluss über sein Kunstkonzept geben, z.B.: „Die letzte Frage ist: Kann man heute in den ausufernden 80er Jahren noch Kunst machen? Und wie muss die aussehen? Introvertiert oder intravenös?“ Mehr davon gebe ich im Folgenden wieder. Hier erstmal das Selbstbildnis mit Zigarette (Mischtechnik auf Papier, 1972), das mich sehr an Ernst Ludwig Kirchner erinnert.
München, 5. 4. 1966
Liebe Eltern, die künstlerische Entwicklung geht heute so schnell voran, dass man sich wundert, letztes Jahr noch so etwas Merkwürdiges wie Popart gemacht zu haben oder dachte, gemacht zu haben. Inzwischen bin ich wieder aufs Abstrakte zurückgekommen, weil der ganzheitliche, fließende Rhythmus eben da nur möglich ist. Aber jetzt male ich, nicht nur, sondern (wir alle sind das) bin auf die Polarität Realität-Illusion gestoßen. Und die muss künstlerisch bewältigt werden.
Malerei wird dann zur Illusion, wenn man sie konkret dreidimensional übers Bild himausführt, und so kann man alles zwei- oder dreidimensional gegeneinanderstellen, wobei die Schwierigkeit auftauchen kann, dass das Zweidimensionale räumlich-perspektivisch ist, das 3dimensionale flächig erscheinen kann.
Ich experimentiere jetzt richtig drauflos, höchstens schweifend-metamorphe Figuren treten auf, die aber wieder verschwinden u. untertauchen oder direkt in den Raum hinausschießen. Ich bin wirklich begeistert über diese neue Freiheit.
Ich habe eine Motorsäge und säge aus Holzspanplatten Bügel und Formen aus, male simultan, krümme Hartfaserplatten, nagele, schneide Bleche und wölbe und leime Drähte usw —–
Und die Malerei selbst ist ganz leuchtend farbig – konstruktiv – konkret wie Leger oder Volkskunst oder frühe Kandinsky. Rot, grün, blau, gelb, schwarz, weiß und mit weiß gemischte Zwischentöne. ——
Dies nur kurz über meine Pläne und „Antiobjekte“.
Ich hoffe, Euch geht’s gut?
In Liebe Euer Hans-Peter
Aschau, 18. 2. 1982
Über Altersversorgung.
Die Professur in Braunschweig gut durch. Heute kam die Nachricht. Jetzt ist es egal, was ich mache. Ob ich gar nichts mache, ob ich schlechte Sachen mache oder ob ich nur noch das mache, was mir Spaß macht. Auf jeden Fall brauch ich dem Handel nicht mehr nachzurennen. Langsam werde ich ja auch ein Awi, ein alter Wilder mit Plattfüßen, Übergewicht, Karies, zu hohem Blutdruck, Ischiasanfällen. Die jungen Wilden haben mich längst überholt. Jetzt ist der Druck weg, man hat eine gewisse Narrenfreiheit, man ist weg vom Schaufenster der Avantgarde-Zwänge, wo jeder kleine Schritt kommentiert und bekrittelt wird. Jetzt bin ich Beamter, muß auf den Staat schwören, bin gespannt, wie sich das in der Malerei auswirken wird – Ha, ha!
Hier an der HBK wegen Umbaumaßnahmen immer noch kein richtiges Atelier, nur eine Besenkammer. Und dann die Hin- und Herfahrerei nach Aschau alle 14 Tage, die geht mir auf die Nerven. Ein Umzug nach Braunschweig wird sich wohl nicht vermeiden lassen. Aber wer zieht schon gerne von München nach Braunschweig?
Frage: Seit 1982 bist Du Professor in Braunschweig. Fiel Dir der Umzug von München schwer? Was hast Du für Pläne?
Antwort: Als Norddeutscher fiel mir der Umzug nicht allzuschwer, und unser Haus in Aschau haben wir ja behalten. Wenn der Hirsch älter wird, kehrt er in seine angestammten Gefilde zurück. Und was meine Pläne betrifft: Ich will unsere Sammlung ausbauen, die zu einem Museum führen soll. Und ich will ein Institut für dämonologische Ästhetik an der HBK gründen, das sich der Pflege und Förderung dämonologischer, also aus dem Unterbewußten stammenden Kunst + Ästhetik zwischen Mythos und Aufklärung widmen soll. Keine Geisterbeschwörung, keine schwarzen Messen, keine Guru-Gruppe für exzessiven Lebenswandel, sondern Praxis und Theorie expressiver, phantastischer Kunst als Gegengewicht zu den rationalen Computertendenzen. Das schwebt mit vor.