Regine Nahrwold am 19. Juni 2015
„Ur-Geräusch“ von Carsten Nicolai im Kunstverein Braunschweig
Schon das Entrée nimmt für diese Ausstellung ein: Durch den Eingangsbereich der klassizistischen Villa „Salve Hospes“ hindurch strahlen dem Betrachter vier horizontale Neonröhren in kaltem Weiß entgegen. Sie erscheinen noch zweimal und zwar als Videoaufzeichnung, in Echtzeit übertragen auf zwei Monitore, über denen zwei lange Pendel schwingen. Auf dem tiefsten Punkt ihrer Kurve berühren sie die Monitore und rufen dort eine Störung hervor, die das Bild der Neonröhren erzittern lässt und ein Klang-Bild rot-grün-blauer Schlieren auf den Monitoren erzeugt. Mit jedem Kontakt erklingt ein dunkler Ton, der das ganze Haus wie ein tiefes Ostinato durchdringt. Abstrakt und abgehoben? Nein, „ctr mgn“ (2013) von Carsten Nicolai ist eine starke, ästhetisch sehr überzeugende Installation und im übrigen eine Reminiszenz an „Magnet-TV“ des Videokunst-Pioniers Nam June Paik aus den 1960er Jahren.
Mehrere solcher skulptural-akustischen Installationen und Objekte hat Nicolai (Jahrgang 1965) in den hohen, repräsentativen Räumen des Untergeschosses aufgebaut, streng puristisch, was die Hightech-Werke in Wechselwirkung mit der Architektur des Kunstvereins sehr gut zur Geltung bringt. Nicolai, international renommiert und als Musiker ein bekannter Vertreter elektronischen Musik, visualisiert in seiner Kunst Phänomene von Licht, Akustik und Wahrnehmung. In „Invertone“ (2007) stehen sich zwei Lautsprecher gegenüber, die „weißes Rauschen“ aussenden. Da der eine phaseninvertiert sendet, löscht sein Sound den des anderen aus, genau in der Mitte kommt es zu einem Moment der absoluten Stille. Im Festsaal des Hauses stehen sich zwei riesige Parabolspiegel gegenüber. Ihre schön geschwungenen Innenwölbungen bilden ein raffiniertes Spiegelkabinett und ermöglichen die Erfahrung, dass der am einen Ende produzierte Ton in gleicher Lautstärke auch am Gegenpol zu hören ist. Inspiration dafür waren barocke Flüsternischen, wo Liebespaare sich trotz größerer Entfernung heimliche Zärtlichkeiten zuraunen konnten.
Die niedrigeren Wohnräume des Obergeschosses hat Nicolai in ein Archiv verwandelt: Auf Tischen sind in weißen Kästchen jeweils Serien gleichartiger Dinge versammelt – gefaltete Papiere, Kristalle, Magnetbänder – jedes einzelne die individuelle Ausformung seiner Gattung, dazu wissenschaftliche Literatur. Vor allem aber ist hier der Text zu hören, der der Ausstellung den Namen gab: Rilkes „Urgeräusch“ (1919), in dem sich der Dichter, inspiriert von der Erfindung des Phonographen, vorstellt, wie es klänge, vertonte man die Kronen-Naht des menschlichen Schädels – „eine unendlich zarte Stelle der Wirklichkeit“. (Bis 23. 8., Öffnungszeiten: Di-So 11-17 Uhr, Do 11-20 Uhr. Eine Führung, jeweils So 14.30 Uhr und Do 18 Uhr, ist zu empfehlen.)