Regine Nahrwold am 14. Mai 2016
Ausstellung: Boris Mikhailov im Kunstverein Wolfenbüttel
Eine Ausstellung des Fotografen Boris Mikhailov, international bekannt geworden als Chronist der sowjetischen und postsowjetischen Gesellschaft und vielfach ausgezeichnet (u.a. Goslarer Kaiserring 2015) im Kunstverein Wolfenbüttel – das ist schon eine kleine Sensation! Und wer hat’s möglich gemacht? Die Perser des Aischylos, inszeniert von Claudia Bosse zur Eröffnung des Festivals „Theaterformen“ 2007. Den Part des Chores sprachen und spielten 300 Menschen aus Braunschweig. Eben diese hat Mikhailov damals portraitiert, diese „German Portraits“ bilden einen Teil des Bildbandes „Maquette Braunschweig“, der zum Theaterprojekt erschien. Eine Auswahl dieser Fotografien empfängt den Besucher im ersten Raum der Ausstellung: sachliche Aufnahmen von Köpfen im silhouettenhaften Profil – beeindruckende Vielfalt des Individuellen im Rahmen eines einheitlichen Settings von schwarzem Hintergrund und immer demselben Format. Jedes zeitliche Moment scheint hier ausgeschaltet.
Die Serie „Jewish Portraits“ von 2015 zeigt Besucher einer Synagoge in Kiew in traditioneller jüdischer Kleidung vor einem schwarzen Vorhang. Anders als bei den „German Portraits“ sieht man diesen hier allerdings nicht als dunklen Hintergrund, sondern als Ganzes inklusive der Person, die ihn hält, dahinter noch Häuser, die Straße, Menschen. So kommt etwas Provisorisches, fast Ernüchterndes in das Bild hinein, die Inszenierung des Portraitierten wird als solche entlarvt. Attribute wie Einkaufstüte oder Kopfhörer bringen Gegenwart, Zufall und Alltäglichkeit ins Spiel.
Am berührendsten ist wohl die Auswahl aus der Reihe „Case History“ von 1997/98, Aufnahmen von Obdachlosen in der Ukraine. Groß sticht eine Fotografie hervor: Eine ältere Frau, eingehüllt in Schal und Mantel, an einen Baumstamm gelehnt, davor ein jüngerer, bärtiger Mann mit nacktem Oberkörper. Ein heroisch-klischeehaftes Lenin-Portrait prangt als Tätowierung auf seiner Brust, wie ein Hohn und Spott auf das elende Leben am Rande der Gesellschaft, das diese beiden Menschen nach dem Scheitern des Kommunismus führen. Mikhailov versteht seine Bilder als „eine Möglichkeit der andauernden Kommunikation mit dem Leben“. Es ist das Leben der Durchschnittsmenschen, der sogenannten kleinen Leute, das ihn interessiert, ungeschönt und ohne Idealisierung. Er dokumentiert es mit Ironie, Humor und – großem Respekt vor den Menschen, auf die er seine Kamera richtet.