Regine Nahrwold am 10. Mai 2017
Odön von Hórvaths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ in der TU Braunschweig
„Ein Wiener Volksstück gegen das Wiener Volksstück“ nannte Erich Kästner Odön von Hórvaths „Geschichten aus dem Wiener Wald“. Das Stück, geschrieben Ende der 1920er Jahre, bürstet sämtliche Klischees von der Wiener Gemütlichkeit gegen den Strich und entlarvt die Spießigkeit, Bigotterie und Frauenverachtung des kleinbürgerlichen Milieus in den Zeiten von Arbeitslosigkeit und Weltwirtschaftskrise. Ein Schelm, wer da an die Gegenwart denkt, etwa bei dem Satz „Arbeit im alten Sinne rentiert sich nicht mehr, heute muss man mit der Arbeit der anderen arbeiten“. Unter der Regie von Imke Kügler und Dieter Prinzing brachte die Theatergruppe der TU am Sonntag Abend das Stück im Audimax mit Bravour auf die Bühne.
Jana Overhage, Leonard Kerner
Im Mittelpunkt steht das Schicksal Mariannes (hinreißend natürlich: Lisa Golubew), die sich, dem Wunsch ihres Vaters (mit Herzblut: Kevin Winter) folgend, widerwillig mit dem Fleischer Oskar (zu brav und blass: Christian Breitenstein) verlobt, dann aber dem Hallodri Alfred (von souveräner Nonchalance: Nico Selle) verfällt. Bei ihr ist’s die romantisch verklärte große Liebe, bei ihm sind’s eher die Triebe. Trotz eines Abtreibungsversuchs bekommen sie ein Kind, und die wilde Ehe wird schnell „verbrannte Milch und Langeweile“ (Tucholsky). Alfred verfrachtet das ihm lästige Kind zu seiner Familie in die Wachau, wo seine Großmutter (kalt und hart: Annabelle Rettig) den „Bankert“ der Kälte aussetzt und so seinen Tod herbeiführt. Derweil verschachert Alfred Marianne an die Baronin (Linda Schmidkunz), als Tänzerin in fragwürdigen Etablissements, immer am Rande zur Prostitution. Doch kaum ist der Schandfleck des Kindes ausradiert, ist der selbstgefällige Oskar wieder bereit, Marianne zu heiraten. Sie fügt sich resigniert – was bleibt ihr auch anderes übrig? Ihr Vater – „Die finanzielle Unabhängigkeit der Frau vom Mann ist der letzte Schritt zum Bolschewismus“ – hat sie nie etwas lernen lassen, sie immer nur zur Ehe erzogen.
Nico Selle, Farina Höpfner
Parallel dazu jagt Nachbarin Valerie (kokett und warmherzig: Farina Höpfner) glücklos den Männern nach. Auf den Hierlinger Ferdinand (Janosch Baumgarten) folgt erst Alfred, dann Erich aus Dessau – ach nein, Kassel -, Jurastudent mit brauner Gesinnung (schön stocksteif: Luke Schneider). Wie sie und Mariannes Vater dazwischen am Ufer der Donau übereinander herfallen, gehört zu den stärksten Szenen. Weitere Höhepunkte: die Verlobungsfeier, Mariannes Auftritt im Maxim, wo ihr Vater sie überraschend wiederfindet und der reiche Mister aus Amerika (Janosch Baumgarten), abgeblitzt, sie des Diebstahls bezichtigt und ins Gefängnis bringt. Vor allem aber ihre Beichte: Aus dem Off donnert der Priester auf die Ärmste herab, sie ist zerknirscht, doch das geliebte Kind in Sünde empfangen zu haben – nein, das bereut sie nicht!
Linda Schmidkunz, Janosch Baumgarten, Lisa Golubew
Gut besetzt sind auch die Nebenrollen, etwa der Rittmeister (schneidig: Clemens Meyer) oder der Fleischer Havlitschek (brutal: Leonhard Kerner), immer bereit, „die Sau abzustechen“ und mit derben Sprüchen auf der Lippe: „Weiber gibt es wie Mist, sie haben keine Seele, nur äußerliches Fleisch“. Toll auch die Kostüme und das Bühnenbild (Nico Selle): drei Holzkuben, die mal Fleischerladen, Puppenklinik und Tabaktrafik darstellen, mal, mit zugezogenen Vorhängen, die geschlossenen Fenster eines Innenraums. Eine subtile Beleuchtung (Julian Jacobi) trägt das Ihre zum Erfolg bei. Weitere Aufführungen: 12., 13., 14. Mai, jeweils um 19.30 Uhr.
Schlussapplaus