Regine Nahrwold am 23. Mai 2017
Disneydrama von Christian Lollike im Staatstheater Braunschweig
„Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will, muss man die Tatsache achten, daß sie einen festen Rahmen haben: dieser Grundsatz (…) ist einfach eine Forderung des Wirklichkeitssinns. Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt (…) dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann.“ So steht’s geschrieben in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn verkörpern die beiden Protagonisten im Stück „Träume werden Wirklichkeit. Ein Disneydrama“ des dänischen Autors Christian Lollike (geb. 1973), das am Samstag Abend im Kleinen Haus des Staatstheaters Premiere feierte.
Eine Frau und ein Mann, beide Anfang dreißig und somit der „Generation Y“ der etwa 1980 bis 1999 Geborenen angehörend: gut ausgebildet, aufgewachsen mit Computer, Internet und Handy legt sie angeblich mehr Wert auf Freude an der Arbeit und Sinnsuche als auf Besitz, Status und Prestige. Doch sie und er sind deprimiert, wenn nicht gar depressiv. Beide haben es satt, sich selbst verwirklichen, sich therapieren, coachen, optimieren zu sollen. Er ist der Idealist, Träumer und Weltverbesser, der eigentlich weiß, worum es geht: „Wenn Du über eine Wiese gehst und fühlst, wie das Gras Deine Füße kitzelt, dann spürst Du DAS.“ Er begeistert sich für Revolution, Gerechtigkeit, Obamas „Yes, we can“-Rede und die große, orgiastische Liebesvereinigung aller. „Ach, das hat Dir doch früher mal so ein Wollpulloverklaus erzählt“, entgegnet die nüchterne Realistin und leidet doch an der Wirklichkeit. Die Kinder und ihr Mann, der grünen Tee und Sauerteig ansetzt, gehen ihr auf die Nerven. „Mir fehlt Schicksal, Abenteuer, ein Hobbit. Ich will raus aus dieser Realität, eine andere sein.“ Walt Disneys Figuren verkörpern für sie das verlorene Reich der Phantasie: Dornröschen sein, oder besser noch Schneewittchen, vom Märchenprinzen ins Leben zurückgeküsst! Und so wagen beide zusammen den Sprung durch die imaginäre Schrankwand und landen staunend wie die Kinder in der rosaroten Disneywelt, wo 1000 Seifenblasen schweben. Hier schlüpfen sie in die Rollen von Aladin, von Schneewittchen und Prinz, die gemeinsam ins Märchenschloss einziehen und ein Kind bekommen, von Zwergen, Hänsel und Gretel und von Donald Duck, der sich nach einer Pause von der permanenten Kosten-Nutzen-Analyse sehnt. Doch sein Psychologe erklärt ihm gnadenlos die Gesetze des Kapitalismus. Denn auch im Märchen platzen irgendwann die Seifenblasen: Der Prinz langweilt Schneewittchen mit Buchhaltung und Steuererklärung und stellt schließlich selber fest: „Wir haben ein Schloss und ein Reich, aber DAS haben wir verloren.“
Gut möglich, dass nach Lollikes Stück von der Glückssuche einer vom Wohlstand saturierten Generation in zehn, zwanzig Jahren kein Hahn mehr kräht. Die Inszenierung aber, die erste selbständige Regiearbeit von Elyn Friedrich, ist hinreißend, voller Charme und Witz. Pauline Kästner und Alexander Wanat spielen, singen und tanzen facettenreich, mit Tempo und Leidenschaft. Die Dramaturgie besorgte Katrin Schmitz, die phantasievollen Kostüme sowie die Bühne Marvin Ott. Ein höchst amüsanter Abend, für den das Publikum mit begeistertem Applaus dankte.