Regine Nahrwold am 6. August 2017
Ausstellung: Meine Documenta 14 in Kassel
Pedro Cabrita Reis
Niemals habe ich auf einer Documenta, der weltgrößten Ausstellung zeitgenössischer Kunst, eine solche Fülle an konventionellen, mittelmäßigen Werken aus den 1930er bis 1970er Jahren und auch von heute gesehen! Viele davon mögen Zeugnisse von Nonkonformismus sowie Widerstand gegen Krieg, Diktaturen, Kolonialismus und Ausbeutung sein – große künstlerische Erfindungen sind sie nicht. Das beginnt mit der Sammlung des EMST, des Museums für zeitgenössische Kunst Athen, die im Friderizianum, dem zentralen Ausstellungsort, völlig deplaziert ist. Nur drei beachtliche Werke, von Pedro Cabrita Reis, Mona Hatoum und Bill Viola finden sich dort, doch neu sind sie nicht. Und in der Documentahalle, der Neuen Galerie und der Alten Hauptpost hört es noch lange nicht auf…
Britta Marakatt-Labba
Nilima Sheik
Natürlich man kann in dieser Fülle auch einige Entdeckungen machen: den volkstümlichen Wandbehang der samischen Künstlerin Britta Marakatt-Labba. Die jüdische Malerin Erna Rosenstein, die Rumänin Geta BrÄtescu, die Inderin Nilima Sheik mit einer Rauminstallation feiner Malerei oder die exzentrische Lorenza Böttner (Transgender ohne Arme). Den Vorhang aus Rentierschädeln der samisch-norwegischen Künstlerin Máret Ánne Sara. Die dokumentarischen Schwarzweißaufnahmen des Magdeburgers Ulrich Wüst. Die Sozialreportagen der palästinensischen Fotografin Ahlam Shibli. Doch weltbewegend ist nichts davon. Und abstrakte Strohhalm-Collagen (Otto Holzapfel, DDR)? Ein Menstruationsengel (Cecilia Vicuña, Chile)? Schwarze Seife (Otobong Nkanga, Nigeria)? Ein von Aborigines geschaffenes Wandbild bebrillter Känguruhs? Da habe ich mich schon schwer gewundert.
Marta Minujín
Viel besser als erwartet „funktioniert“ dagegen der „Parthenon der Bücher“ der Argentinierin Marta Minujín, das Wahrzeichen der Documenta 14 auf dem Friedrichsplatz. All diese Bücher waren oder sind irgendwo auf der Welt verboten, viele wurden 1933 von den Nazis genau hier verbrannt. Als ich abends nach Kassel hineinfuhr, ragten die mit transparenter Folie umkleideten Säulen in den Abendhimmel hinein, die aufrecht stehenden Bücher darin zeichneten sich als dunkle Silhouetten im Gegenlicht ab. In der Mittagssonne des nächsten Tages glitzert das Ganze wie ein riesiges Mosaik, und die Stahlkonstruktion wirft ein feines Liniennetz von Schatten auf den Boden. Menschen sitzen auf den Stufen. Der Parthenon ist nicht nur Programm und Wahrzeichen der Ausstellung mit ihrem Motto „Von Athen lernen“, sondern überzeugt auch ästhetisch.
Sehr gut gefallen mir auch die beiden gegenüberliegenden Türme der Torwache, die Ibrahim Mahama aus Ghana mit Flickenteppichen aus hunderten von Jutesäcken in allen nur erdenklichen Brauntönen verhängt hat. In ihnen, manche mit der Aufschrift „Product of Ghana“, wurde Kakao, Kaffee, Reis, Bohnen oder Holzkohle nach Amerika und Europa verschickt. Der Künstler „hat sie dem globalen Warenkreislauf entzogen. Ihre Löcher, Verfärbungen, ausgebleichte Stellen, machen sie zu Zeugen: Hier die Profiteure im Westen – dort die wenig lukrative Rohstoffgewinnung und schlecht bezahlte Handarbeit auf dem afrikanischen Kontinent.“ (Tanja Küchler von hr2-kultur in ihrem Beitrag „Verdammt hässlich – verdammt schön“ vom
Miriam Cahn
Miriam Cahn
Die stärksten Eindrücke habe ich mitgenommen von einem Raum mit Bildern der Schweizerin Miriam Cahn, die einen sehr eigenen malerischen Ausdruck für die Not der Flüchtlinge gefunden hat. Und von dem israelischen Künstler Roee Rosen. Er zeigt in der Grimmwelt einen umfangreichen Zyklus von Zeichnungen (Tinte, Aquarell, weiße Kreide, Graphit, Collage) zu Shakespeares Drama „Der Kaufmann von Venedig“. Parallel dazu hat er eine zweite Geschichte aus der Perspektive des jüdischen Geldverleihers Shylock erfunden. Da sie von der Blendung Shylocks erzählt, wird sie von linearen Zeichnungen illustriert, die Rosen mit geschlossenen Augen angefertigt hat. Das ist Kunst, die Auge und Geist intensiv beschäftigen kann.
Roee Rosen