Regine Nahrwold am 6. November 2017
Ausstellung „Transparenz“ von Nejla Gür in Hannover-Ahlem
Auszug aus meiner Rede zur Eröffnung: Seit einiger Zeit beschäftigt Nejla Gür das Thema Lebensbahn, das sie auf langen Streifen und Fahnen von Malgrund gestaltet: Papier, Stoff und Folie, die sie mit Acylfarben bemalt. Dabei faszinieren sie vor allem Transparenz und Leichtigkeit des Materials, die Grenze zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem sowie die Tatsache, dass die Bahnen, wenn sie frei im Raum von oben herabhängen, zwei Seiten haben; außerdem lassen sie sich beliebig fortsetzen und verlängern. Auf ihnen finden wir Frauen in Booten, Frauen mit Kindern oder mit einem dicken Knäuel, aus dem sich der Lebensfaden entwickelt – und abgeschnitten wird. Neu sind die Motive von Schere und Messer als Symbole für Bedrohung. Ein besonders schönes Material ist ein zarter, heller, locker gewebter Baumwollstoff von der Rolle aus der Türkei (die Frauen dort nähen ihre Kopftücher daraus). Ihn bearbeitet die Künstlerin im Verfahren der Cyanotypie, nach der Daguerreotypie und Talbotypie das dritte Verfahren zur Herstellung von fotografischen Bildern, das 1842 entwickelt wurde und auf Eisen beruht. Die Künstlerin legte Gegenstände auf den vorbereiteten Stoff, das sich durch die Strahlung von Sonnenlicht cyanblau verfärbt, wobei die abgedeckten Partien als Fotogramm weiß ausgespart bleiben.
Auf Nejla Gürs blauen Stoffbahnen zeichnen sich die weißen Silhouetten einer großen Distel, von Handfeger, Kehrblech und Paddel ab, ganz verschwommen auch der Kopf des Bürgermeisters von Dikili (für ein scharfes Profil ist er nicht lange genug geblieben, er hatte es eilig). Das Blau ist die Farbe von Himmel und Meer und des Gewandes der schwangeren „Madonna del Parto“, der „Madonna der Geburt“. Die Künstlerin hatte das große Glück, dieses wunderbare Fresko auf einer ihrer Reisen selbst zu sehen. Piero della Francesco schuf es Ende des 15. Jhs. für die Apsis der Friedhofskapelle Santa Maria in Silvis in Monterchi, einer kleinen toskanischen Gemeinde, und der russische Regisseur Andrej Tarkowsky hat ihm in seinem Film „Nostalghia“ ein unvergessliches Denkmal gesetzt.
Weiterhin bringt Nejla Gür in ihre Arbeiten Texte von Gedichten und traurig-schönen türkischen Volksliedern ein, die Weggehen, schmerzliches Sich-trennen-müssen und die Sehnsucht besingen. (Martin Luther-Kirche, Wunstorfer Landstr. 50b, Hannover Ahlem)