Regine Nahrwold am 22. Februar 2018
Hans Peter Litscher im Allgemeinen Konsumverein
Seine Spezialität: fiktive Biographien, bis ins kleinste Detail äußerst glaubhaft erfunden und durch skurrile Exponate aus dem „Nachlass“ der Personen exakt „dokumentiert“. Den Auftakt zum diesjährigen Programm des „Allgemeinen Konsumvereins“ machte am Donnerstagabend der Schweizer Künstler Hans Peter Litscher mit einem – wie sollte es anders sein? – Mix aus Ausstellung, Vortrag und Performance. Den Braunschweigern dürfte er durch sein Projekt „Goethes Zebra“ (2014) in bester Erinnerung sein. Und just währenddessen geschah’s, dass ihn ein älterer Herr auf sein Stück „Lessings Blessings“ ansprach, geschaffen für das Festival „Theaterformen“ 1991. Dieses Stück habe, so der Herr, sein Leben verändert, er sei der Sohn des Boxers Samy Angott und der Ururenkel von Lessings Weinhändler Angott.
Die Idee zu „Lessings Blessings“ hatte Litscher, als er in New York einen Lieferwagen des Catering Service „Lessing’s“ erspähte. (Exponat: von Kerzen beleuchtetes Modell des Lieferwagens mit Schriftzug). Auf genau dieses Gefährt prallte eines Tages Bruce Lindenhurst, Verfasser von „Ganz geschwiegen oder Ganz mit der Sprache heraus. Beobachtungen & Überlegungen zu G. E. Lessings Wortschatz“ (Exponat: Buch), weil er im Auto, vor einer roten Ampel wartend, in der „Hamburgischen Dramaturgie“ las und dann bei Grün mit der Lesebrille (Exponat: vergrößertes Modell) auf der Nase weiterfuhr. Doch als Rachel, die Fahrerin des Lieferwagens, seine Lektüre erblickte, verzieh sie ihm alles, denn sie und ihre ganze Familie pflegten Lessings Sprache hingebungsvoll. (Wie groß sollte ihre Enttäuschung sein, als sie später nach Deutschland kam und so gar nichts mehr davon finden konnte!) Bruce und Rachel – ihre Mutter hatte übrigens als kleines Mädchen eine Elfe in Shakespeares „Sommernachtstraum“, inszeniert von Max Reinhardt, gespielt (Exponat: allerliebstes Foto) – wurden ein Paar. Allein, das Glück währte nicht lang: Sie brannte nach Neuseeland durch, und so musste er im Hotel „Deutsches Haus“ in Braunschweig allein wohnen und speisen, bestellte jedoch tagtäglich ein zweites Frühstück für sie, um sie wieder herbeizubeschwören (Exponate: Kellog’s Cornflakes und Schoko Pops). Um die wachsenden Stapel von Kellog’s Packungen einer sinnvollen Verwendung zuzuführen, setzte Bruce sie als Anschauungsmaterial in einem Vortrag über Platons „Timaios“ (Exponat: Buch) ein…
So spinnt sich die Geschichte assoziierend und mäandernd fort, und es macht diebische Freude, Litscher zu lauschen. Er plaudert, zeigt, erläutert, fordert – „Kommen Sie, kommen Sie!“ – zum Weitergehen auf, zaubert aus seinem Handy Musik und eine Lesung seiner Lieblingsschauspielerin Jutta Lampe hervor (Exponat: Foto der für eine Rolle komplett schwarz Geschminkten), um schließlich bei Einstein, Kafka und dessen Biografen Wagenbach zu landen. Wie war er da noch mal hingekommen? Und was ist nun Fakt, was Fake? Keine Ahnung, so schwirrt einem der Kopf… Und das alles kommt so leicht, spielerisch und amüsant daher, dass man fast vergisst, wieviel Belesenheit, Recherchen, Bildung und Kreativität dahintersteckt. Schade, dass diese Performance nicht noch einmal wiederholt wird!