Regine Nahrwold am 2. Juni 2018
Ausstellung „Ohne Etikett fühle ich mich freier…“ im Herzog Anton Ulrich-Museum
„Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen“. Dieser Satz könnte als Motto über der Ausstellung stehen, die in der Reihe „Intervention – Raum für junge Kunst“ soeben im Herzog Anton Ulrich-Museum eröffnet wurde. Präsentiert werden Arbeiten aus der Sammlung Reydan Weiss. Die in Istanbul geborene Sammlerin wuchs in Jordanien sowie Jerusalem auf, studierte in Deutschland und lebt heute in Neuseeland, Deutschland und der Türkei. Aus ihrer Biographie resultiert ein grenzüberschreitender Blick für Kunst, der sich in Erwerbungen namhafter Künstler wie Cindy Sherman und Gerhard Richter spiegelt sowie in neuen Werken aus Kuba, Chile oder Australien und den verschiedensten Kunstgattungen. Aus 850 Arbeiten von rund 150 Künstlern hat Kurator Sven Nommensen für die Ausstellung „Ohne Etikett fühle ich mich freier…“ Gemälde, Fotografien, Skulpturen, Objekte und ein Video von sechzehn Künstlern ausgewählt. All diese Werke weisen einen engen Bezug zu Kunstkammer-Objekten des Museums auf und drehen sich um das Thema Tod und Vergänglichkeit. Und: Die meisten von ihnen sind so kunstvoll, dass man sagen kann, sie vollenden, was die Natur begann.
Da sind etwa die Stillleben von Mat Collishaw (ge. 1966, London), Portraits von Henkersmahlzeiten zum Tode verurteilter Menschen, die aus dem schwarzen Hintergrund in sanften Farben und mattem Licht hervortreten; höchst raffiniert aufgenommen, changieren sie, das Auge täuschend, zwischen Malerei und Fotografie. Von Carolein Smit (geb. 1960, Zussen, Belgien) stammt die Keramik „Death and the Maiden“, die nach dem Vorbild der mittelalterlichen „Frau Welt“ von vorn ein junges Mädchen zeigt, von hinten ein Skelett – Heute und Morgen, Diesseits und Jenseits, Leben und Tod als zwei Kehrseiten einer Medaille. Das Künstlerduo Bertozzo & Casoni (geb. 1957 und 1961, Imola bei Bologna) hat einen hypernaturalistischen Strauß von Ranunkeln beigesteuert; jedes einzelne Blütenblatt ist aus Porzellanmasse hauchfein geformt oder gegossen, ebenso die Schmetterlinge, die als Symbole für die unsterbliche Seele auf den Blumen sitzen. In Linde Ivimeys (geb. 1965, Sydney) Kunstkammerschrank finden sich Straußeneier, Knochen, diverse Gefäße, Kerzenleuchter, sowie Puppen und Püppchen aus selbst gefärbten Stoffen, die auf den Kinderwunsch der Künstlerin verweisen. Alastair Mackie (geb. 1977, Cornwall) hat hunderte filigraner Mäuseschädelchen zu einer perfekten Kugel zusammengefügt; der Titel „Sphere“ spielt auch auf das metaphysisch konnotierte Himmelsgewölbe an. Ein wunderschönes rundes Objekt hat Kate McGwire (geb. 1964, London) aus blaugrünschwarz schillernden Entenfedern geschaffen und in einen Schrein gestellt; auch die Kiele sind mit eingebaut und kontrastieren als stachlige Elemente mit der glatten Wölbung. Die Ausstellung beschert auch ein Wiedersehen mit Hans op de Beek (geb. 1969, Brüssel). Auf seinem „Vanitas Table“ sind Symbole der Sinnenfreude und der Vergänglichkeit gleichermaßen angeordnet: Früchte und eine Blume, erloschene Kerzen und ein aufgeschlagenes „Buch des Leben“, aber auch Gegenwärtiges wie eine Handy und eine Zigarettenschachtel mit Feuerzeug. Dies alles aus jenem mit Pigment eingefärbtem Gips, der den höchst realistischen Dingen ihre Farben entzieht, jeden Hinweis auf ihre Materialität und Oberflächentextur tilgt und sie der Wirklichkeit wieder entrückt.
Ihre Entstehung im 21. Jahrhundert ist diesen Werken nicht immer anzusehen, aber nach der Postmoderne ist ja wieder alles erlaubt. Und zu den Sammlungen des Museums passen sie ganz hervorragend – ein tolles Zusammenspiel! (Bis 16. September, Herzog Anton Ulrich-Museum, Museumsstr. 1, Öffnungszeiten: Di-So, 11-18 Uhr)