Regine Nahrwold am 14. Juni 2018
Festival Theaterformen: Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs
Die Bühne: ein Müllhaufen, links ein Art Zeugenstand. Hier nimmt zunächst Consolate Sipérius Platz und erzählt, wie sie als Vierjährige in Burundi die Ermordung ihrer Eltern mit ansehen musste, bevor sie durch Vermittlung einer Firma – lauter afrikanische Kinder zum Aussuchen in einem IKEA-Katalog! – von einem belgischen Ehepaar adoptiert wurde. Dann Auftritt Ursina Lardi. Mit dem Foto des ertrunkenen syrischen Jungen Aylan – „Man kennt es, ohne es gesehen zu haben“ – beginnt sie ihren großen Monolog in „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“. Interviews mit NGO-Mitarbeitern und die Biografien der beiden Schauspielerinnen hat Autor und Regisseur Milo Rau in diesem Stück verarbeitet. Lardis Gesicht schwebt, von der Kamera in Echtzeit aufgenommen, über ihr auf einem großen Bildschirm. Ihr subtiles Spiel, ihre nuancenreiche Mimik erleben wir genau so wie die Schreckensbilder aus aller Welt: indirekt, medial vermittelt. Sie spielt die Hauptdarstellerin des Stücks; bei den Recherchen dafür, in europäischen Flüchtlingscamps und in Afrika, werden Erinnerungen an die zwei Jahre wach, die sie als Lehramtsstudentin im Kongo verbracht hat, zur Zeit des Völkermordes im benachbarten Ruanda. Was und wie sie erzählt – da stehen einem die Haare zu Berge: Im Kongo erlebte sie, welche Macht man dort als Weiße hat. „Das war schon mal eine sehr positive Erfahrung.“ Tausend NGO`s hätten sich um die Hutu-Flüchtlinge aus Ruanda, darunter die Schlächter, gestritten, das war schließlich ihr Absatzmarkt. Einen Mann kaufte sie für 950 Dollar frei und rettete ihm das Leben, aber als sie ihn Jahre später bei einem Galadinner wiedertrifft, kann der sich doch nicht mal mehr an diese Summe erinnern! Einen Workshop zur Friedenserziehung musste sie geben, unbedarft wie sie war: „Ich hatte bisher nur Kinder unterrichtet, und nun auf einmal Kongolesen!“ Unter die Haut geht der unerträglich laut anschwellende langsame Satz aus Beethovens 7. Sinfonie, in den sie vor Todesschreien flüchtete; ihre Katzen mochten diese ihre Lieblingsmusik, ja letztlich sogar ihre afrikanischen Freunde!
Lardis Reden strotzen nur so vor Arroganz, Selbstgefälligkeit und rassistischen Ressentiments. Und hält sie uns damit nicht den Spiegel vor, uns saturierten Wohlstandsbürger mit den Luxusproblemen, die wir es, ach, so gut meinen mit den Benachteiligten dieser Erde und doch nur helfen wollen? Aber unser Lebensstil, unsere Politik und Wirtschaft verursachen deren Probleme. „Am Ende sind alle nur Arschlöcher“ bilanziert Lardi. „ Am Ende kommt es darauf an, wer die Maschinengewehre hat.“ Mitleid kann sie nicht empfinden: „Hier zu weinen wäre wirklich das Allerletzte.“ Nach und nach offenbart sie, was sich als Trauma und Alptraum unter ihrem Zynismus verbirgt: Sie wurde gezwungen, eine kongolesische Freundin zu demütigen, auf sie zu urinieren.
Das Stück ist auch eine Reflexion über das Theater: Lardi ist eine Ödipus-Figur, die eigentlich das Gute will und dabei doch Schuld auf sich lädt. Und das Theater schlägt Kapital aus dem Leiden anderer, seien es die Flüchtlinge, die Juden oder die Gestalten der griechischen Tragödie. Durch Einbeziehung zweier Filme, Lars von Triers „Dogville“ und Quentin Tarantinos „Inglorious Basterds“, thematisiert Milo Rau auch die Möglichkeit der Rache der Opfer. Ein grandioser, ein erschütternder Theaterabend.