Regine Nahrwold am 16. Juni 2018
Lesung: Juli Zeh mit „Leere Herzen“ in der Buchhandlung Graff
„Wie kam es dazu, dass Sie Hanno-, äh, Braunschweig als Ort der Handlung Ihres Romans gewählt haben?“ Mit diesem (echten!) Versprecher in seiner ersten Frage an Juli Zeh hat Joachim Dicks die Lacher auf seiner Seite. Die Autorin ist mit ihrem Buch „Leere Herzen“ zum zweiten Mal in der Buchhandlung Graff zu Gast, diesmal zum Gespräch mit dem Literaturredakteur bei NDR Kultur. Die Idee zu dem Buch sei ihr 2016 in Braunschweig gekommen, so Zeh, einen Tag vor ihrer Lesung aus „Unterleuten“. Sie saß im Café und scrollte sich durch ihre Handy-Nachrichten; es waren viele von terroristischen Mini-Attentaten dabei. Speis das ein in unsere kapitalistische Start up- und Optimierungsgesellschaft! So lautete ihr Braunschweiger Imperativ. Die Idee der „Brücke“ wurde geboren, einer Heilpraxis, die Britta, die Protagonistin des Romans, mit ihrem Partner Babak im Jahr 2025 gründet. Hier werden potenzielle Selbstmörder ausfindig gemacht, auf die Ernsthaftigkeit ihrer Suizidabsichten hin getestet und gegen Honorar an Organisationen vermittelt, die Selbstmordattentäter suchen; so können sie ihren Tod in den Dienst einer höheren Sache stellen. „Figuren und Orte haben etwas Prototypisches, eine metaphorische Suggestivkraft“, so Zeh. Und Braunschweig eignete sich so gut als Handlungsort, weil es heute eine Tendenz weg von Land und Großstadt hin zu Mittelstädten gebe: „Dem 21. Jahrhundert entsprechen Mittelstädte, mittelgroß, mittelwichtig und bis ins kleinste Detail dem Pragmatismus gehorchend. Es gibt alles, davon aber nicht zuviel, vom Wenigen genug und dazwischen erschwinglichen Wohnraum, breite Straßen und eine Architektur, die einen in Ruhe lässt.“ So steht’s im zweiten Kapitel, und Zeh fügt hinzu: „Und wenn etwas schön ist, dann ist ein Kaufhaus drin – Feudalismus im Kapitalismus.“ Drei Mal war sie in hier und hat Braunschweig auf die beste Art erkundet: mit dem Fahrrad.
Zur Sprache kommt auch das Thema Verhältnis zwischen den Geschlechtern, von der Kritik kaum beachtet, obwohl im Buch lebendig und humorvoll beschrieben, wie Dicks meint. „Ich war eine Non-Feministin“, sagt Zeh, „Manche unserer gesellschaftlichen Verwerfungen wie der Rechtspopulismus haben vielleicht auch was zu tun mit der Zersetzung der Geschlechterrollen. Oft werden deswegen Stellvertreterkriege wie die Me too-Debatte geführt; sie lenken aber ab von der Diskussion, die wir miteinander führen müssen.“ Erst mit zwei kleinen Kindern erfahre sie, wie schwer Kinderbetreuung mit Arbeit zu vereinbaren ist, wie wenig Anerkennung man als Mutter bekommt. „Unser Idealbild vom gelungenen Leben kennzeichnen nicht Kinderwagen und Spielplatz, sondern noch immer das dicke Auto, der Laptop und der Aktenkoffer.“
Die Form der Dystopie wählt Zeh immer wieder für ihre Romane, weil man damit gegenwärtige Probleme so gut veranschaulichen kann: „Unsere Gegenwart ist kleinteilig, die Dystopie spannt dagegen einen großen Bogen, übertreibt, ist aber keine Prognose.“ Heute stehen Funktionieren und Effizienz ganz oben im Ranking. Brittas Geschäftsidee passt dazu, sie geht rational mit irrationalen Phänomenen um, das ist das „leere Herz“. „Wir sehnen uns alle nach einem vollen Herzen, aber wir haben Angst vor dem Abenteuer.“