Regine Nahrwold am 30. Juni 2018
Poetikdozentur für Gender in der literarischen Welt 2018 für Uljana Wolf
„Ich habe ‚falsche Freunde‘ gesucht und gesammelt, und dann saß ich da mit meiner Liste…“, erzählt Uljana Wolf. „Falsche Freunde“ nennt man Worte aus verschiedenen Sprachen, die gleich klingen oder geschrieben werden, aber eine völlig andere Bedeutung haben, z.B. „bad“ (englisch: schlecht) und das deutsche Wort „Bad“. „Falsche Freunde“ ist auch der Titel eines Gedichtbandes der Lyrikerin und Übersetzerin, deren künstlerische Phantasie sich im Pendeln zwischen zwei (Sprach)Welten, im Grenzgebiet zwischen Deutsch, Englisch und Polnisch entzündet. „Das Übertreten von Landesgrenzen gehört zum Dichten“, sagt sie, „Die Fremde bildet Gespräche aus.“.
Am Mittwoch wurde Uljana Wolf mit dem Preis der Ricarda Huch ausgezeichnet. Er wird von der Stadt Braunschweig, der Fakultät für Geistes- und Erziehungswissenschaften der TU Braunschweig, dem Braunschweiger Zentrum für Gender Studies und dem Institut für Braunschweigische Regionalgeschichte gestiftet und umfasst ein Preisgeld von 7.000 Euro sowie einen dotierten Lehrauftrag. Mit dem Preis ehren die Partner jährlich eine Dozentin oder einen Dozenten, die oder der sich durch bedeutende Leistungen auf dem Gebiet der Gegenwartsliteratur oder der literarischen Kritik ausgewiesen hat und in deren bzw. dessen Werk Geschlechterdimensionen von zentraler Bedeutung sind.
Uljana Wolf, geboren 1979 in Ost-Berlin, studierte Germanistik, Kulturwissenschaft und Anglistik in Berlin und Krakau. Sie lebt in Berlin und New York, wo sie am Pratt Institute und an der New York University Deutsch als Fremdsprache unterrichtet und Seminare zu Poesie und Übersetzung gibt. Wolfs Gedichte wurden in mehr als 15 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Peter-Huchel-Preis 2006, dem Dresdner Lyrikpreis 2006 und dem Erlangener Preis für Poesie als Übersetzung 2015. In Anlehnung an Baudelaire beschrieb Laudatorin Bettina Wahring, Professorin für Pharmazie- und Wissenschaftsgeschichte an der TU Braunschweig, Wolfs komplexes Werk als Ouroboros, die Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt: ihre vielen Themen, darunter auch Geschlechterverhältnisse, seien die Abschnitte dieses Wappentiers der Alchemie. Dichten und Übersetzen seien bei Wolf Auslesen, Überlesen, Ausstreichen, Überschreiben; ihre Lyrik könne man „mit Augen hören und mit Ohren lesen“.
Die eigentliche Sensation des Abends war die Lesung von Uljana Wolf, die dem gebannt lauschenden Publikum Gedichte aus drei verschiedenen Bänden vortrug. Aus den Worten „rest“, „rock“, „rat“, „roman“ (englisch: ruhen, Felsen, Ratte, Römer) hat sie etwa ein geistreiches Sprachspiel zur Lorelei entwickelt. „Aliens“, der dritte Teil von „Falsche Freunde“ bezieht sich auf Ellis Island bei New York. Die Insel war über 30 Jahre lang die zentrale Sammelstelle für Immigranten in die USA. Dort wurde eine Art Alphabet entwickelt: Bestimmte Buchstaben standen für bestimmte Krankheiten; sie wurden den Einwanderern, die man für krank hielt, mit Kreide auf die Schulter geschrieben wie ein Brandzeichen. Jedem dieser Buchstaben ist ein Gedicht gewidmet, in dem Wolf die Gefühle und Stimmungen der Migranten klug und feinfühlig aufscheinen lässt.
Das Verhältnis zwischen Gender, Mehrsprachigkeit und poetischem Experiment wird auch im Zentrum ihrer Vorlesungen am 29.6., 5.7. und 12.7. um 19 Uhr in der Aula, Haus der Wissenschaft, Pockelsstr. 11, stehen.