Regine Nahrwold am 12. September 2018
Ausstellung „Somewhere Safer“ von Camille Blatrix in der Remise des Kunstvereins
Dass zeitgenössische Kunst in nahezu leeren Räumen präsentiert wird, daran ist man ja seit langem gewöhnt. Aber so leer wie bei der Installation „Somewhere Safer“ von Camille Blatrix war, scheint’s, die Remise des Kunstvereins schon lange nicht mehr. „Somewhere Safer“ ist die erste institutionelle Einzelausstellung des 1984 in Paris geborenen Künstlers, der an der École nationale supérieur des beaux-artes de Paris studierte und dessen Arbeiten schon in Paris, San Francisco, New York und Zürich gezeigt wurden. Während im Haupthaus des „Salve Hospes“ sinnliche Malerei – bunt und plakativ von Ida Ekblad, in feinen gebrochenen Nuancen von Leda Bourgogne – zu sehen ist, präsentiert Blatrix im Nebengebäude – eine konzeptuelle Kopfgeburt. Doch der Reihe nach.
Zunächst die Bestandsaufnahme: Was ist zu sehen? Der kleine Durchgangsflur der Remise ist mit grünem, von Mahagoni-Leisten eingefasstem Teppichboden ausgelegt; ein Spiegel hängt dort, auf die Innenseiten des Rahmens sind brennende Kerzen gemalt. Im Hauptraum eine „Mauer“ aus drei neuen, verschlossenen Pappkartons; dahinter ein kunstvolles skulpturales Objekt aus Holz und Kunststoff, das mich an einen großen Schuhlöffel oder auch einen Ski erinnert; an einem Ende ist ein winziger Strauß vertrockneter Kornähren angebracht. An der Wand daneben hängt ein Intarsien-Bild, auf dem das Wort AND zu lesen ist. Die Fensterrahmen dieser Wand sind samt Griffen in den matten Naturfarben Braun und Beige übermalt. An der Wand gegenüber hängt ein weiteres sehr ästhetisches Objekt, eine Art Zwitter zwischen Blume und Propeller, dem mit lautem, den ganze Raum füllendem Zischen Luft entströmt. Zudem ertönt leise Musik aus dem dritten, verschlossenen Zimmer des Gebäudes. Geht man außen herum, sieht man: Das Fenster zu diesem Raum ist mit einem Mahagoni-Brett vernagelt, und die Scheiben sind mit spiegelnder Folie überzogen. Die Musik – Whitney Houstons Schmachtfetzen „I will always love you“ – ist hier draußen laut und deutlich zu vernehmen.
Was hat das alles zu bedeuten? Mir erscheint das Ganze sehr kryptisch, ich finde nichts, wo meine eigene Phantasie andocken könnte. Auch der Titel – Irgendwo sicherer – hilf mir nicht weiter. Ratlos greife ich zum Begleittext und lese dort „Beim Betreten der künstlich verengten Eingangssituation … wird das Motiv des Wartens, das Herbeisehnen eines unbestimmt bleibenden Ereignisses, in dem sich Bangen und Hoffen, Unruhe und Vorfreude mischen, auch körperlich spürbar.“ Hmmm. Ist das so? Nein, das kann ich beim besten Willen nicht nachvollziehen. Staunend lese ich weiter, dass Kerzen und Kornähren als Symbole von Leben und Fruchtbarkeit auch Hinweise auf Schwangerschaft und nahende Geburt enthalten, ja, dass das Thema der Natalität sich auch im Sinne Hannah Arendts „als Sinnbild eines Neubeginns oder Initiationsmoment jeder Form von ästhetischer Praxis begreifen lässt“; die hinter den Kartons liegende Skulptur sei eine Verschmelzung von Phallus, Kornhalm und Gewehr und “Somewhere Safer“ sei „ein privater Rückzugsort, der Schutz und Geborgenheit vor der Außenwelt suggeriert, von dem aber gleichzeitig ein Gefühl der lauernden Gefahr und inneren Unruhe ausgeht“.
Ich bin so konservativ, dass ich die Kunst noch immer als ein Medium für den Augensinn begreife, dass ich das, was sie bedeuten soll, aus dem, was ich sehe, herauslesen können muss. Und von einer Erläuterung erwarte ich, dass sie mir die Augen öffnet, und mir etwas zeigt, was ich vorher nicht gesehen habe. Beides geschieht hier nicht. Kann sein, dass ich alt werde und diese Kunst nicht mehr verstehe. Kann aber auch sein, dass ihre Bedeutung hier so stark verschlüsselt wurde, dass sie sich einfach nicht mehr erschließt. Und das nenne ich – eine konzeptuelle Kopfgeburt. (Bis 18. 11., Kunstverein Braunschweig, Remise, Lessingplatz 12, Öffnungszeiten: Di-So 11-17 Uhr, Do 11-20 Uhr)