Regine Nahrwold am 4. Dezember 2018
Lesung von Sybille Lewitscharoff im Haus der Wissenschaft
„Was Sie gleich hören werden, ist bis jetzt noch keinem Publikum zu Ohren gekommen!“ Nichts weniger als eine Weltpremiere sei die Lesung von Sybille Lewitscharoff, kündigt Professor Jan Röhnert an. Auf Einladung des Instituts für Germanistik der TU las die Bachmann-, Büchner- und Raabepreisträgerin am Montag Abend im Haus der Wissenschaft. „Das Oszillieren zwischen dem Realistischen und dem Phantastischen macht den Zauber ihrer Romane aus.“ Und genau in diesem Zwischenreich ist die Lesung angesiedelt: es geht um Vogelflüge, poetische Höhenflüge und das Phänomen der Leviation. Vögel seien mächtige Geschöpfe, auf denen ein besonderer Glanz ruhe; in ihnen senke sich der Himmel auf die Erde herab, so Lewitscharoff. In den „Vogelgesprächen“ des persischen Dichters und Mystikers Fariduddin Attar (um 1136-1220/21) lässt der weise Vogelkönig Simurgh die kleineren Vögel an seiner Erkenntnis teilhaben. Er ist nahe dem Himmel, seine Ratschläge kleben nicht am Kleinen, sondern streben in die Höhe. Der Wiedehopf mit dem Krönchen als Zeichen seiner Gottesgesandschaft ist sein Vermittler, „man glaubt sofort, dass ein veritabler Prophet in ihm steckt“. Aus den „Metamorphosen“ Ovids liest Lewitscharoff unter anderem aus der grausamen Geschichte der Schwestern Philomela und Prokne. Sie rächen sich am thrakischen König Tereus, indem sie seinen kleinen Sohn zerstückeln und dem Vater zum Mahl vorsetzen. Auf der Flucht vor seinem Zorn werden sie zu Nachtigall und Schwalbe, der Verfolger zum Wiedehopf, „dem ein Busch auf dem Scheitel emporsteht, und unmäßig entragt mit langer Spitze der Schnabel (…) es erscheint wie gewaffnet das Antlitz.“ Und schließlich der eigene Roman „Das Pfingstwunder“ von 2016, in dem die Teilnehmer eines Kongresses in Rom zu Dantes „Göttlicher Komödie“ so euphorisch werden,
dass sie aus dem Fenster fliegen. Hier bricht sich Lewitscharoffs Dante-Begeisterung Bahn: In der „Commedia“ vollziehe sich die berühmteste Levitation, der Aufstieg des Dichters vom tiefsten Punkt der Hölle – „Nicht Feuer herrscht dort, sondern Eis, das die Seele von allen Gefühlen abschneidet“ – hinauf in die Freiheit und Glückseligkeit des Himmels, wo Gott in einem Engelsschwarm erscheint und die reine Vernunft in die Erlösung eingebunden sei. Eine besondere Klasse sei die „Commedia“: „Alles ist in Terzinen konstruiert und enthält dabei eine immense Fülle – eine Weltschau der damaligen Zeit“. Die Qualen des Inferno schildere Dante sehr realistisch, aber: „Auf den Leib einzuprügeln, ist literarisch viel einfacher – eine sichere Bank“. Das Schöne, das Paradies zu beschreiben, berge dagegen die Gefahr des Kitsches, doch der sei Dante eben nicht erlegen.
An Wunder glaube sie nicht, hat die Schriftstellerin einmal gesagt, wohin die Kongressteilnehmer in „Das Pfingstwunder“ entschwinden, könne sie nicht sagen. Doch an die Bilder von metaphorischer, ja metaphysischer Kraft eines Fariduddin Attar, eines Ovid, eines Dante scheint sie schon zu glauben. Und an die Macht der Sprache, beschreibt sie doch die begeisterte Form der Spracherhebung, die die Forscher in den Flugmodus hineinführt, „als verkipptes, eingeschnürtes Quietschen, ein Säuseln in Intervallen, berstende Platzlaute, zart diffundierende Schattenimpulse aus dem Nirgendwo, eine komische Art von Dröhnen mit pfeifendem Rand, ein gehauchtes Schmatzen (…) Knarren, Quetschen, Scheppern, glasfeines Sirren (…)“.