Regine Nahrwold am 30. Januar 2019
Vortrag von Susanne Vill: Richard Wagners Frauenfiguren
„Der wirkliche Mensch ist Mann und Weib, und nur in der Vereinigung von Mann und Weib existiert erst der wirkliche Mensch.“ Dieses Zitat Richard Wagners aus dem Jahr 1854 stellte Susanne Vill, Sängerin, Regisseurin und emeritierte Professorin für Theaterwissenschaft an der Universität Bayreuth, ihrem Vortrag über Wagners Frauengestalten voran. Auf Einladung des Richard Wagner-Verbands Braunschweig sprach sie am Sonntag Nachmittag in der Hausbar des Staatstheaters über „Das Weib der Zukunft im Getriebe der Macht“.
Die Frau sah Wagner als unselbständiges Wesen an, vom Manne abhängig und erst durch ihn zu komplettieren: „Das Weib erhält volle Individualität erst im Momente der Hingebung. Es ist das Wellenmädchen, das seelenlos durch die Wogen seines Elementes dahinrauscht, bis es durch die Liebe eines Mannes erst die Seele empfängt.“ Solcher Schmonzes kann heute nur noch Haarsträuben oder Hohngelächter hervorrufen!
Der Liebe maß Wagner einen hohen Stellenwert zu, verbunden mit der Forderung nach einem Opfer – natürlich dem der Frau. Bereits im „Fliegenden Holländer“ (1840–1841) erlöst die junge Senta den ruhelos umherirrenden Mann, indem sie sich ihm aus Liebe opfert. In dieser Erlöserin sah der Komponist „das noch unvorhandene, ersehnte, geahnte, unendlich weibliche Weib, (…) das Weib der Zukunft“. In dessen Liebe kann die rastlose Suche eines Holländers, eines Ahasveros, Odysseus und Columbus sich endlich erfüllen. Diese vier Prototypen sah Wagner als die erlösungsbedürftigen Repräsentanten der Triebkräfte des modernen Geistes, der Neugier und der Suche nach Wissen, Erkenntnis, Aufklärung und Abenteuer. In der Heimatlosigkeit des Holländers spiegele sich aber auch Wagners Sehnsucht nach der terra utopica eines politisch neu gestalteten Deutschland und das Existenzgefühl des modernen, dem Leben entfremdeten Künstlers, so Vill. In ihrem gehaltvollen Vortrag setzte sie diesen Wagnerschen Mythos außerdem zu seiner Biographie, zum Christentum, zur Psychoanalyse und zur Kultur- und Zeitgeschichte in Beziehung. Während der Industrialisierung habe eine wahre Selbstaufopferungsideologie geherrscht: das Diktat der Maschinen und der Rentabilität, entfremdete Arbeit und Ausbeutung führten zu Auszehrung als sozialem Phänomen. Irgendwo mussten sich aber die Ausgezehrten – wie die Vampire – wieder aufladen, und das „Weib der Zukunft“ sei die verfügbar gemachte Spenderin von Lebensenergie. In Gestalt der ersten Darstellerin der Senta, Wilhelmine Schröder-Devrient, und seiner Ehefrau Cosima sei Wagner die weibliche Selbstaufgabe begegnet. Cosima habe an diese Idee geglaubt und auch danach gelebt. Einen anderen, stärkeren Frauentypus brachte Wagner dann erst mit Elsa hervor, der Ungehorsamen, die gegen Lohengrins Frageverbot verstößt: „Elsa (…) hat mich zum vollständigen Revolutionär gemacht. Sie war der Geist des Volkes, nach dem ich auch als künstlerischer Mensch zu meiner Erlösung verlangte.“ Doch Vill beleuchtete hauptsächlich den „Fliegenden Holländer“ und stellte am Schluss eine Reihe von Inszenierungen vor, von Harry Kupfer (1978) bis zur aktuellen Arbeit von Isabel Ostermann in Braunschweig. Dabei zeigte sie auf, auf welche gesellschaftlichen Fragen hin die Oper jeweils interpretiert oder auch gewaltsam hingebogen wurde, um Wagners überholtem Frauenbild zu entkommen.
Der Vorsitzende des veranstaltenden Wagner-Verbands wollte in der Diskussion von Vill noch mehr hören über Wagners starke, selbstbewusst gesellschaftlichen Konventionen und Missständen zum Trotz handelnde Frauenfiguren, die die Männerwelt „erlösend“ korrigierten. Dazu ist in ihren Aufsätzen mehr zu lesen.