Regine Nahrwold am 15. Februar 2019
Ein Max Beckmann für Braunschweig!
Foto: Claus Cordes, HAUM
Der 6. April 1900 muss in und um Braunschweig herum ein kühler Vorfrühlingstag gewesen sein. Im Naturschutzgebiet Riddagshausen liegt ein graublauer Himmel über einem der ebenfalls graublauen Teiche, dessen Ufer bräunliches Schilf säumt, man hört förmlich den Wind darin rascheln. Im Hintergrund ansteigende Felder, am Horizont erstreckt sich ein dunkelbrauner, noch kahler Wald. Am Himmel plastische weiße Wolken, eine dunkle Wolke spiegelt sich im Wasser. Es scheint kalt, vielleicht sogar etwas stürmisch zu sein – richtiges Aprilwetter eben.
So ähnlich jedenfalls muss es vor 119 Jahren Max Beckmann erlebt haben, denn so zeigt es sein Gemälde „Landschaft mit See“, das der 16jährige 1900, vielleicht direkt vor der Natur in Riddagshausen, anfertigte. Das Herzog Anton Ulrich-Museum (HAUM) konnte die nur 19,5 x 28,5 cm große Ölskizze im Dezember 2018 auf der 285. Auktion bei Karl & Faber in München mit Unterstützung der Braunschweiger Günter Kalkhoff-Stiftung für 43.000 Euro ersteigern – eine kleine Sensation! Das Bild stammt aus dem Nachlass von Barbara Göpel, der Ehefrau und kunsthistorischen Mitarbeiterin Erhard Göpels. Die untadelige Provenienz lässt sich über eine Nichte Beckmanns bis zu deren Mutter, seiner Schwester Margarethe, zurückverfolgen. Der Kunsthistoriker Erhard Göpel (1906-1966) war während der Zeit des Nationalsozialismus am Kunstraub in den von den Deutschen besetzten Gebieten beteiligt, zugleich aber auch Freund und Bewunderer des als „entartet“ diffamierten Künstlers, dem er insbesondere während seines Amsterdamer Exils im Zweiten Weltkrieg helfend zur Seite stand. Nach 1945 hat er sich, gemeinsam mit Ehefrau Barbara, um das Werk Beckmann verdient gemacht, unter anderem mit einem 1976 erschienenen Werkverzeichnis, das die signierte und auf den 6.4.1900 datierte „Landschaft mit See“ als Nummer 2 aufführt.
1900 – das war Beckmann vor Beckmann. Der 1884 in Leipzig geborene Max lebt zu dieser Zeit mit seiner Mutter in Braunschweig; hier war sein Vater 1895, nur wenige Monate nach dem Umzug, gestorben – für den Zehnjährigen mit Sicherheit ein Trauma. Man wohnte gutbürgerlich, im Sandweg Nr. 1, heute Magnitorwall, gegenüber dem Herzoglichen Museum (heute HAUM).
Der Junge besucht die Jahnsche Realschule in der Leopoldstraße. Er ist ein schlechter Schüler, dafür schon früh künstlerisch ambitioniert. In seinem Triptychon „The Beginning“ (1946-49) hat Beckmann seinem ungeliebten Schulalltag ein Denkmal gesetzt: Verborgen vor den Augen des strengen Lehrers reicht er einem Klassenkameraden eine unanständige Zeichnung weiter. Dazu schrieb er später selbst: „In Braunschweig zeichnete ich mich in der Schule dadurch besonders aus, dass ich in den Stunden eine kleine Bilderfabrik errichtete, deren Erzeugnisse von Hand zu Hand gingen und manchen armen Mitsklaven über sein trübes Schicksal auf ewige Minuten hinwegtäuschte.“ Er wechselt auf eine Schule in Königslutter, und 1899 wird er in ein privates Internat im öden Ahlshausen bei Gandersheim verbannt, von wo er aber Reißaus nimmt, zurück nach Braunschweig.
Das erste seiner Skizzenbücher, das den Zeitraum Jahr 1899-1900 umfasst (Washington National Gallery of Art), beweist, dass Beckmann unermüdlich zeichnete – und welche rasante Fortschritte er bei seinem autodidaktischen Studium erzielte. 60 dieser Skizzen sind in und um Braunschweig entstanden. Ihnen ist zu entnehmen, dass er in dieser Zeit zeichnend die Stadt, die Umgebung und die Ausflugslokale durchstreifte, wobei es ihn besonders zum Nussberg, nach Riddagshausen und zum „Grünen Jäger“ zog. Die „Landschaft mit See“ könnte den Schapenbruchteich und im Hintergrund die Buchhorst darstellen.
Im Werkverzeichnis von Göpel steht die Ölskizze zwischen zwei Selbstbildnissen, dem ersten von 1899 (Sprengel Museum Hannover), das noch ganz schülerhaft bemüht wirkt, und dem zweiten von 1900. Es zeigt den schlaksigen jungen Mann mit dem mächtigen Kinn sitzend im Profil, Seifenblasen produzierend, die vor weiter Landschaft in den hohen, blauen Himmel hineintrudeln. In den Seifenblasen, einem alten Vanitas-Motiv, zeigt sich bereits der Sinn für das Allegorische und Symbolische, den der Maler später zu einer Besonderheit seiner Kunst entwickeln wird. 1900 bewarb sich der erst 16jährige – ohne Schulabschluss! – mit Erfolg um die Aufnahme an der Kunstschule in Weimar, wo er bis 1903 studierte. Das Jahr 1900, in dem die „Landschaft mit See“ entstand, markiert also einen entscheidenden Wendepunkt in Beckmanns Biographie und Entwicklung.
Im Herzog Anton Ulrich-Museum gehört die Ölskizze nun zum Bestand des Kupferstichkabinetts. Es besitzt bereits 98 graphische Werke dieses bedeutenden Künstlers, dessen graphischen Selbstbildnissen das Museum bereits 2001 eine große Ausstellung gewidmet hat. Ende 2020/Anfang 2021 wird nun eine weitere Schau folgen, die die bisher noch wenig erforschten künstlerischen Anfänge Beckmanns in den Fokus rückt, darunter auch die Braunschweiger Zeit. Erst einmal wird aber die Neuerwerbung gefeiert mit einer Aktionswoche vom 6.-14. April, die auf den Tag genau 119 Jahre nach Entstehung des Bildes beginnt. Die „Landschaft mit See“ wird in dieser Zeit in der Gemäldegalerie im Raum mit niederländischen Landschaften zu sehen sein, die der junge Beckmann gut gekannt haben dürfte. Spezialführungen, eine Studioausstellung im Kupferstichkabinett und zwei Vorträge ergänzen diese besondere Präsentation.