Regine Nahrwold am 13. Juni 2019
„tanzwärts“ Wanderer: Probenreportage
Foto: Bettina Stöß
„Jetzt merkt Euch, bitte, gut, was Ihr gerade von wem in der Hand habt!“ Diese Anweisung löst bei uns albernes Gekicher und Gegacker aus. Wir sind eine Gruppe des aktuellen „tanzwärts“-Projekts des Staatstheaters, neun Frauen, zwei Männer und ein Junge, zwischen 7 und 70 Jahren. Soeben liegen wir sternförmig angeordnet um die stehende Christiane auf dem Boden. Jeder berührt seine Nebenpersonen an Armen, Schultern oder Händen. Im nächsten Schritt robben wir an Christiane heran, richten uns halb auf und umfangen ihre Beine. So verharren wir einen Moment, wie die Wurzeln eines Baumes, dann stehen wir auf und umschließen sie ganz dicht, bevor sie versuchen wird, aus dieser Umzingelung auszubrechen.
Gut vier Wochen ist es jetzt her, dass wir diesen Teil unserer Choreographie erarbeitet haben, angeleitet von den Tänzerinnen Bettina Bölkow und Alice Baccile. Ich staune, was die beiden mit ihrer Erfahrung und Kreativität, mit Geduld und Freundlichkeit aus uns Laien herausholen. Anfangs probierten sie viel mit uns aus, ließen uns improvisieren, griffen manche Bewegungen auf und bauten sie in die entstehende Choreographie ein. Später begannen sie, uns bestimmte Bewegungen beizubringen. Das Tolle dabei: Sie nehmen jede von uns so an, wie sie ist, mit dem, was sie kann, und mit ihren Grenzen. Meine anfängliche Sorge, ich könnte physisch überfordert sein, verpufft sehr schnell. Die Herausforderungen sind eher: Kann ich mir die Schritte und Bewegungen auch merken? Zähle ich richtig zur Musik? Kriege ich Tempo, Rhythmus, Präzision hin? Nach acht Tagen tauchen an einigen Knien und Ellbogen die ersten Blessuren und Pflaster auf. Meine Achillessehne schmerzt, aber ich will unbedingt durchhalten und das Zusammenschwingen aller 141 Männer, Frauen und Kinder auf der großen Bühne erleben!
Foto: Gabriele Heinichen
Ein großer Moment ist das „Showing“: Jede der sieben Gruppen führt vor, was sie zum Thema „Wanderer“ erarbeitet hat. Da gibt es Rasantes, Mutiges und Melancholisches, fürsorgliche oder sehnsüchtige Berührungen; man bricht zusammen und schleppt sich weiter, stürzt und wird aufgefangen; Last wird geschultert und wieder abgeworfen, die Menge formt sich zum Ornament einer riesigen Blume – Wow! Und dann sind wir dran: Hilfe, wo bin ich hier? Ich müsste doch jetzt mit Anne und Jutta eine Diagonale bilden, wo ist die nur? Doch schon sinken wir zu Boden, ich lande mit Kathrin und Anne in einem Klumpen – he, so war das aber nicht geplant! (Also: üben, üben, üben!)
Anschließend übernimmt Ballettdirektor Gregor Zöllig die Leitung. Er ist streng, verlangt absolute Ruhe und Konzentration. „Denkt immer daran: Ihr macht dem Publikum Euren Tanz zum Geschenk!“ Er bringt uns eine neue Gesamtchoreographie bei, und das erste Mal überfällt mich leichte Panik: Lauter neue Bewegungen folgen Schlag auf Schlag, sofort nach Musik und mit Zählzeiten. Ich komme kaum hinterher. Diese Nacht schlafe ich schlecht und erwache schon sehr früh aus wirren Tanz-Träumen…
Ab dieser Woche proben wir auf der großen Bühne. Jeden Tag kommt etwas Neues hinzu, morgen bei der Hauptprobe Kostüme und Beleuchtung. Es wird, und die Spannung wächst… Das Geschenk Gregor Zölligs und seiner Truppe an uns: eine intensive Zeit mit neuen Erfahrungen und das Glück, ein Stück weit über sich hinausgewachsen zu sein. Danke, Ihr alle! (Staatstheater, Großes Haus, Premiere am 15.6. um 19 Uhr, 2. Vorstellung am 16.6. um 11 Uhr)
Foto: Alice Baccile