Regine Nahrwold am 1. Juli 2019
Ausstellung „Naturalia Artistica“ von Anja Schindler im Übersee-Museum Bremen
Auszug aus meiner Rede zur Eröffnung der Ausstellung:
Dass Anja Schindler ihre Kunst nicht einfach nur hier im Haus aufgebaut hat, sondern auf dessen Exponate feinsinnig Bezug nimmt, zeigt etwa eine im Kabinett ausgestellte Kommode. In ihren Schubladen finden sich exotische Früchte aus Namibia, Eukalyptussamen aus Portugal, deutsche Kastanien und – schwarze Walnüsse von den Bremer Wallanlagen. Und wie das Museum präsentiert auch sie neben Naturalien Dinge, die von Menschenhand gemacht sind, wie einen Schlitten, einen Globus oder ein Holz zum Aufwickeln einer Wäscheleine. (…)
Schindlers mumifizierter Frosch hat für diese Ausstellung viele kleine Brüder aus dem 3D-Drucker bekommen, die die Besucher mit ihrem leuchtenden Blau ins Kabinett und in die Schausammlung „Übermaxx“ lotsen. Hier hat die Künstlerin in einer Schublade eine „ägyptische“ Grabkammer für einen Nashornborkenkäfer samt Geschwistern realisiert, mit einer Goldmaske, Proviant für das Jenseits und anderen Beigaben. Dem Ausstellungstitel „Naturalia Artistica“ wird gerade diese gewitzte Arbeit voll und ganz gerecht. Weiterhin hat Schindlers sich Objekte aus der Nass-Sammlung ausgesucht und nach ihnen Zeichnungen angefertigt. Sie sind nun neben den Vorbildern zu sehen, z.B. Seepferdchen oder dem aus seinem Ei schlüpfenden Embryo eines „Gavialis Gangeticus“, einer heute nur noch in Nepal und im Norden Indiens lebenden Krokodilart, die auf der Roten Liste gefährdeter Arten steht. Auffallend ist, dass die mumifizierten Wesen auf den Zeichnungen wieder ganz lebendig wirken, ja eine individuelle Physiognomie und einen kecken Gesichtsausdruck bekommen. Wie auch bei manchen Exponaten des Museums, etwa der Maske, die Amazonas-Indianer aus den bunten Federn der dort lebenden Vögel erschaffen haben, oder den großartigen holzgeschnitzten Krokodilen aus Ozeanien gleich neben dem Schädel eines echten Riesenkrokodils möchte man ausrufen: Hier vollendet die Kunst, was die Natur begann – „Naturalia Artistica“!
Was bewirkt es bei den Besuchern, wenn sie hier plötzlich und unerwartet auf die Kunst von Anja Schindler treffen, die einerseits an die Exponate des Museums anknüpft, andererseits aber auch aus dem Rahmen fällt? Nun, sie werden sich irritiert fragen, was das zu bedeuten hat. Damit haben die Arbeiten der Künstlerin schon mal eine wichtige Aufgabe von Kunst erfüllt, die Theodor W. Adorno formuliert hat, nämlich Unordnung in die Ordnung zu bringen. Man stolpert über das, was nicht ins Bild passt, und beginnt Fragen zu stellen. Zum anderen löst Anja Schindler ganz gewöhnliche Gebrauchsgegenstände wie Nudeln oder Seife aus ihrem alltäglichen Funktionszusammenhang heraus und erhebt sie in den Rang eines zweckfreien Kunstwerks. Damit eröffnet sie uns – auch das eine wichtige Aufgabe von Kunst – neue Sichtweisen auf das, was wir kennen oder zu kennen glauben. Das moderne Schöne als „das Überraschende, Befremdende, neu Belebende lässt uns ahnen, dass das Innerste unserer Produktivität nicht in der verwalteten Welt aufgeht.“ (So der Philosoph Claus-Arthur Scheier.)
(…) Die Wunderkammern von Anja Schindler lehren uns wieder das Staunen, das am Anfang aller Wissbegierde und Wissenschaft steht. „In Museum haben Wunder ja eigentlich nichts verloren“, sagte mir die Künstlerin, als ich vor drei Tagen ihre Ausstellung hier besichtigte. Hinterher fiel mir dazu ein Ausspruch von Werner Heisenberg ein: „Der erste Schluck aus dem Becher der Wissenschaft führt zum Atheismus, aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott“. Und wer sich zu „Gott“ nicht verstehen kann, kann auch gerne „wartet Gott“ durch „wartet wieder das Wunder“ ersetzen.