Regine Nahrwold am 3. Juli 2019
Chor „Sine Nomine“ mit Lili Boulanger und Carl Orff in St. Johannis
Foto: Sandra Grünberg
„Alles, was Odem hat, soll ohne Feinde, ohne jede Behinderung den Schmerz überwinden und Glückseligkeit erlangen und sich in Freiheit bewegen, ein jeder auf dem Weg, der seine Bestimmung ist.“ So lautet die erste Strophe des „Alten buddhistischen Gebets“ für Chor, Solotenor und Orchester von Lili Boulanger. Die französische Komponistin stand lange im Schatten von Ravel und Debussy, ist heute jedoch als ganz eigene Stimme innerhalb des Impressionismus anerkannt. Das kurze, ergreifende Stück nach buddhistischen Texten aus dem 5. Jahrhundert n. Chr. handelt von Frieden, Toleranz und Erlösung. Boulanger schrieb es im 1. Weltkrieg, bevor sie 1918 24jährig starb.
Der Philharmonische Chor „Sine Nomine“ führte das Werk am Samstag Abend unter der Leitung von Karsten Scholz in St. Johannis auf, in der Fassung für Chor und Klavier, gespielt vom Duo Tsuyuki & Rosenboom auf zwei Flügeln, und als „Vorspiel“ zu Carl Orffs „Carmina Burana“. Eine kluge Zusammenstellung, wenden sich doch Boulanger wie Orff längst vergangenen Epochen zu, die sie nachempfinden, interpretieren und wieder aufleben lassen. Dabei bedienen sie sich ähnlicher Mittel wie Einfachheit und Wiederholung, Boulanger allerdings mit einer spirituellen, Orff dagegen mit einer ganz diesseitigen Ausrichtung. Und es war, als hätte Orff seinen Schatten auf das Werk der Französin vorausgeworfen: Man hätte es sich etwas sphärischer gewünscht, leiser und differenzierter in der Dynamik als der Chor und Michael Ha (Tenor) es vortrugen.
Mit den „Carmina Burana“, Orffs 1937 uraufgeführter Vertonung von 24 Liedern aus einer Sammlung mittelalterlicher Liedtexte, gefunden 1803 im Kloster Benediktbeuern, war der Chor dann ganz und gar in seinem Element. Begleitet wurde er wieder vom Duo Tsuyuki & Rosenboom sowie vom Schlagzeugensemble der Städtischen Musikschule (Leitung: D. Keding und S. König) und partiell vom Kinderchor von St. Aegidien (Leitung: B. Schneider). Das Fortissimo des Eingangschores „O Fortuna, velut luna…“ sprengte noch förmlich den akustischen Rahmen der recht kleinen Kirche. Doch die beschwörend geraunten Verse „…semper crescis aut decrescis…“ schlugen das Publikum in den Bann, und diese Spannung hielt bis zum letzten Akkord an. Liebliche Gesänge vom Frühling, derbe vom Saufen in der Taverne, sehnsuchtsvolle oder spöttische von der Liebe rissen die Zuhörer mit. Dabei sang der Chor stets rhytmisch präzise, mit sehr guter Artikulation, Phrasierung und Textverständlichkeit. Die Theatralik, mit der Michael Ha als gebratener Schwan in der Pfanne sein Schicksal beklagte – bei Boulanger deplatziert – war hier goldrichtig. Wiard Withold (Bariton) glänzte nicht nur mit seiner schönen Stimme, sondern auch durch feinste dynamische Gestaltung; besonders toll: der Wechsel zwischen hoher und tiefer Stimmlage beim „Dies, nox et omnia“. Auch das „Du Süßester! Ah! Ganz gebe ich mich dir hin!“ von Cornelie Isenbrügers strahlendem Sopran gehörte zu den vielen Highlights dieses Konzerts.
Der „unpolitische“ Carl Orff arrangierte sich mit den NS-Machthabern, erhielt Aufträge von ihnen und ließ sich von ihnen hofieren. Doch seine „Carmina Burana“ sind und bleiben genial, genau wie die Kunst von Emil Nolde. Frenetischer Applaus.