Regine Nahrwold am 22. Juli 2019
Vortrag: Sybille Lewitscharoff über Dantes „Göttliche Komödie“
„Alles, was ich erkenne, erkenne ich nur, weil ich liebe“, hat Leo Tolstoi einmal gesagt. Sybille Lewitscharoff liebt Dantes „Göttliche Komödie“. Von ihren Erkenntnissen sprach die Schriftstellerin am Dienstag Abend in der TU Braunschweig, auf Einladung des Instituts für Germanistik, Abteilung Neuere deutsche Literatur. Da war kein theoretisch-professoraler Vortrag zu hören, sondern das Plädoyer einer Künstlerin, die mit Temperament und Leidenschaft das Publikum für den großen Dichter entflammte.
Ein harter, unbeugsamer Mensch sei Dante gewesen, nicht geschaffen dafür, „seine adligen Gönner splendid zu unterhalten“. In einem immensen Kraftakt habe er die berstende Stofffülle der Comedia, kurz nach 1300 im Exil verfasst und das Gründungsdokument der italienischen Hochsprache, in eine strenge Form gebracht: die drei Teile – Inferno, Purgatorio, Paradiso – sowie die Einleitung sind in Terzinen geschrieben und belaufen sich insgesamt auf genau 100 Gesänge á 33 Terzinen. Doch diese „besessene Konstruktionsmaschine“ habe zugleich üppigste Poesie hervorgebacht.
Lewitscharoff verglich zunächst verschiedene deutsche Übersetzungen miteinander, angefangen bei der aus dem 19. Jahrhundert von König Johann von Sachsen (Pseudonym: Philaletes) über Stefan George bis zu der von Kurt Flasch aus dem Jahr 2011. Letztere mag sie gar nicht: „Sterile Prosaübersetzungen hasse ich, die nehmen den Dampf aus der Sache raus – tote Hose!“ Bei Philaletes sei dagegen der poetische Charme und die Musikalität des Originals übergesprungen, und darauf komme es an. Abstriche beim Inhalt müsse man deswegen nicht machen, vielmehr gehe es um Neuerfindungen, auch darum, mal einen etwas anderen Assoziationsraum zu eröffnen.
Dann wandte Lewitscharoff sich einem großen Dante-Kenner des 20. Jahrhunderts zu: Samuel Beckett. Sein Werk sei von feinen Verweisen auf die Comedia durchdrungen. Er sei fasziniert gewesen vom Motiv des bewegungslosen Körpers, während im Kopf die Gedanken nur so flitzen. Das Vorbild dafür sei Dantes Belacqua, das Mustergeschöpf eines der Lähmung verfallenen Atheisten aus dem vierten Gesang des Purgatorio. Während die anderen Seelen sich durch die Strafe läutern und der Erlösung entgegenstreben, verharrt er in Untätigkeit mangels Glauben und hofft auf die Fürbitten seiner Familie. In vielen Werken Becketts rieche es förmlich nach Belacqua, so die Schriftstellerin.
Auch Becketts kurzes Prosastück „Der Verwaiser“ (Originaltitel: „Le Dépeupleur“, eigentlich „Der Entvölkerer“) beziehe sich auf Dante. Dieser Behälter, der Waisen erzeugt, sei Dantes Läuterungsberg nachempfunden. Die Menschen in ihm versuchen unablässig, nach oben zu gelangen, wo eine Öffnung den Himmel sehen lässt. Doch sie schaffen es nicht, fallen mutlos und schwerfällig wie Belacqua immer wieder zurück – ein Bild für die moderne Skepsis, die auf religiöse Erlösung nicht mehr hoffen kann. Lewitscharoff schloss mit einer Lesung aus ihrem eigenen Roman „Das Pfingstwunder“, in dem die Teilnehmer eines Dante-Kongresses euphorisiert aus dem Fenster fliegen und verschwinden.