Regine Nahrwold am 15. Oktober 2019
Ausstellung „Zustand der Veränderung“ von Karen Irmer im Kunstverein Wolfenbüttel
Aus der Serie „Zustand der Veränderung“, Fotografie auf Aludibond
„Zustand der Veränderung“ – ist das nicht ein Widerspruch in sich? Ist nicht ein Zustand etwas Feststehendes, die Veränderung dagegen – nun ja, Veränderung eben, Bewegung? Doch die Kunst lebt ja von Paradoxien, Ambivalenzen, vom Zusammenfallen der Extreme, die eigentlich gar nicht zusammen passen. Und für die Ausstellung von Karen Irmer im Kunstverein WOlfewnbütteel ist „Zustand der Veränderung“ ein wunderbarer, sehr treffender Titel. Denn die Künstlerin zeigt uns mit ihren Arbeiten, dass es den totalen Stillstand gar nicht gibt, dass ihm vielmehr ein sanftes Fließen innewohnt, eine Veränderung in kaum wahrnehmbaren, winzigen Schritten. Die Erforschung zeitlicher und räumlicher Aspekte unserer Wahrnehmung ist ihr Grundinteresse. Dafür nutzt sie ausgerechnet jene Medien, die uns heute via Internet pausenlos mit neuen visuellen Eindrücken bombardieren und mit ihrem Entertainment dafür sorgen, dass keine Langeweile aufkommt: Fotografie und Film. Irmers Schwarzweißaufnahmen zeigen Ausschnitte von Wald, Wasser, Bergen, Himmel und Wolken. Die Landschaften sind dabei nicht klar zu lokalisieren, das ist aber auch ganz unwichtig. Formal betrachtet, sind sie ein reiches Gewebe von Grau- oder Blautönen, aus denen bei langem, meditativen Hinsehen Motivisches wie Bäume oder Nebelschwaden auftaucht. Selbst in (nur scheinbar) monochromen schwarzen Arbeiten erkennt man mit der Zeit feinste Unterschiede. Dieses Entdecken ist eine große Freude, und die geheimnisvollen, traumhaften Bilder schenken dem Betrachter Ruhe und Entschleunigung. Eine Arbeit, eine 360 Grad-Videoinstallation, die man mit einer VR-Brille erlebt, heißt „Koan“, wie die Rätselfrage eines Zenmeisters, die mit logischem Denken nicht zu lösen ist, sondern nur durch intuitives Eintauchen in die Weisheit der Frage; so kann sie dem Schüler wahre Erkenntnis bescheren.
Stable Square, Videoloop
Faszinierend ist das Video eines gleichförmig dahinfließenden Flusses, auf dem weiße Schaumkrönchen tanzen – Inbegriff der vergehenden Zeit, die sich doch ständig erneuert. Ferner vier Arbeiten aus der Serie „Zustand der Veränderung“. Hier hat die Künstlerin zwei verschiedene Fotografien entlang einer kaum wahrnehmbaren horizontalen Linie zusammengefügt. Da scheint sich der helle, weite Himmel unterhalb einer Verdichtung von grauen Landschaftsformationen in Wasser zu spiegeln, was an einen Satz von Paul Celan denken lässt: „Wer auf dem Kopf geht, der hat den Himmel als Abgrund unter sich.“
Karen Irmer studierte 2000 bis 2007 an der Akademie der Schönen Künste in München bei Gerd Winner, Dieter Rehm und Sean Scully. Arbeitsaufenthalte führten sie nach Straßburg, Lyon, Seoul und Omaha in Nebraska. 2015-2017 hatte sie das Dorothea Erxleben-Stipendium der HBK Braunschweig samt Lehrauftrag inne und unternahm eine Studienreise nach Irland. Ihre Ausstellung sollte man keinesfalls versäumen. (Bis 3.11., Kunstverein Wolfenbüttel, Reichsstr. 1, 38300 Wolfenbüttel, Öffnungszeiten: Mi bis Fr 16–18 Uhr, Sa und So 11–13 Uhr)
Aus der Serie „Don’t come back, hilll, drift“, Fotografie auf Aludibond