Regine Nahrwold am 24. Oktober 2019
Das „Blind Summit Theatre“ mit „The Table“ im Theater Fadenschein
Ein Mann. Ein Tisch. Drei Spieler. Der Mann: eine Puppe, der Körper aus Stoff, weich, mit schlaksigen Armen und Beinen, der Kopf kantig, aus Karton. Missmutig sieht er aus, ein alter Grantler. Und so einer braucht drei Spieler? Nun, nach der traditionellen Form des japanischen Bunraku schon. Welches Wunder diese drei bewirken, das war am Freitag Abend zum Auftakt des 6. Figurentheater-Festivals „Weitblick“ im Theater Fadenschein zu erleben, beim Gastspiel des „Blind Summit Theatre“ aus Großbritannien. Mark Down leiht der Puppe seine Stimme, bewegt ihren linken Arm und den Kopf, Sean Garratt den rechten Arm und das Hinterteil, Fiona Clift, über eine Stunde in gebückter Haltung, die Füße. Und der Alte beginnt zu leben… Er stellt zuerst mal den Tisch vor. 40 Jahre wohnt er schon auf ihm. Mit großen Schritten und kleinen Hüpfern misst er ihn aus, in Länge, Breite und Diagonale. Er zeigt seinen Garten. Zu sehen ist nichts, aber er beschreibt die Blumen, atmet hingebungsvoll ihren Duft ein. Später wird er unter anderem noch auf einem imaginären Laufband rennen sowie auf einer Phil Collins-Platte rotieren und bei jeder Runde geschickt über den Arm des Plattenspielers hinwegsetzen.
Kokett und mit anzüglichen Hüftbewegungen baggert der Alte eine junge Frau in der ersten Reihe an. Seiner Aufforderung, ihn mal anzufassen, mag die aber nicht nachkommen. Nein, nett ist er nicht, dieser olle Kastenkopp mit Bart, Schlitzaugen und Hakennase. Aber ein Charakter mit einem sehr eigenen Schicksal ist er, und er steckt voller Witz. Er ist es leid, immer nur auf Kindergeburtstagen Märchen erzählen zu müssen, fühlt sich zum Höherem berufen. Dieses naht schließlich in Gestalt des Auftrages einer jüdischen Gesellschaft, die letzten zwölf Lebensstunden des Moses in Echtzeit nachzuspielen. In Rückblenden
teilt Moses das Rote Meer, spricht mit dem brennenden Dornbusch, führt das Volk Israel. Er erklimmt den Berg Nebo und bittet Gott, ihn ins gelobte Land zu lassen. Doch der verkündet dem 120jährigen mehrfach dräuend das Ende aller Tage. „Ist ja gut, Gott, Du hast es jetzt drei Mal gesagt, ich hab’s kapiert.“ Weiter weg vom pädagogisierenden Kindergeburtstagsmärchen geht’s nicht.
Doch immer wieder schweift der Alte ab. Phantastisch, wie er die drei Faktoren eines funktionierenden Puppenspiels – Fokus, Atmung, Fixpunkt – nein, nicht erklärt, sondern vormacht. Vor allem seine Demonstration all dessen, was schiefgeht, wenn man diese Regeln nicht beachtet, amüsiert das Publikum bestens. Und auch der kreative Fehler passiert: Eine Hand löst sich vom Arm der Puppe, was die drei Spieler zu einer hinreißenden Improvisation motiviert. Ihre Koordination und Konzentration, die Feinheit ihrer genau dosierten und aufeinander abgestimmten Handbewegungen sind einfach unglaublich. Und: Sie leben und leiden mit ihrer Figur, reagieren auf ihre Worte und ihr Verhalten, so als sei sie gar nicht ihr Geschöpf, sondern ein selbständiges Lebewesen. Eine atemberaubende Darbietung, ganz große Kunst, die dem „Blind Summit Theatre“ schon internationale Erfolge beschert hat. Auch in Braunschweig überschlug sich das Publikum vor Begeisterung.