Regine Nahrwold am 12. Juli 2020
Ausstellung „Reisen als Zeichnen in der Zeit“ im Allgemeinen Konsumverein
„Die Redewendung ‚in etwas bewandert sein‘ gefällt uns deshalb gut, weil sie den Zusammenhang zwischen wissen und wandern veranschaulicht und dabei den Aspekt der Bewegung und Erfahrung akzentuiert.“ So steht’s im Infoblatt zur neuen Ausstellung des Allgemeinen Konsumvereins, „Reisen als Zeichnen in der Zeit“. Die Schweizer Künstlerin Esther Ernst (geb. 1977) wurde eingeladen, ausgehend von ihrem eigenen Werk Kollegen und Kolleginnen zu finden und mit diesen eine Ausstellung zu erschaffen. Ernst selbst hat zwei große karthographische Werke beigesteuert, mit Bleistift, Farbstift und Tusche gezeichnet auf festes Papier, das nach dem Prinzip der Falk-Pläne gefaltet ist. Eine davon befasst sich mit dem Ort Taubenloch, nahe einer vom Fluss Schüss geformten Schlucht im Berner Jura. Man schaut aus der Vogelperspektive auf die Landschaft, das blaue Band der Schüss durchzieht das große Blatt. Eingebettet ist diese farbige Landkarte in schwarzweißes Blattwerk mit den weißen Tauben darin. Überall sind zudem winzige märchenhafte Mensch- und Tierwesen zu entdecken. Das ist ebenso poetisch ersonnen wie fein gezeichnet. Ein drittes Exponat von Ernst ist zu bestaunen, das gezeichnete und geschriebene Tagebuch eines Kairo-Aufenthalts; festgehalten wurden Dinge wie Stadtteile, Gebäude, Früchte, Schuhe, auch die Künstlerin selbst, „fiebrig und kaputt im pharaonenhaften Bett“.
Esther Ernst, „Taubenloch“
Eine ganz andere, nicht minder faszinierende Art zu zeichnen, nämlich mit der unendlichen Linie, hat Matthias Beckmann (geb. 1965), der als artist in residence Alltagsszenen in der Gropiusstadt, Satelitenstadt im Berliner Bezirk Neukölln, schwarz aufs weiße Papier gebannt hat: U-Bahnhöfe von außen und innen, Kaufhäuser, Buden, Baustellen – hier wandert der Bleistift selbst mit schlafwandlerischer Sicherheit auf den Umrissen der Dinge entlang. Noch einmal anders, nämlich mit kleinen, kurzen Strichen, die durch Verdichtung und Auflockerung
Dunkel und Helligkeit ergeben, um bunte Tempera-Punkte herum, zeichnet Cristina Ohlmer (geb. 1960), ebenfalls sehr souverän. Ihre „Beijing Stills“ entstanden während eines Stipendiums in der chinesischen Hauptstadt: Ausblicke aus dem Fenster oder ein Göttermaler bei der Arbeit sind da zu sehen, mit Chinatusche auf Reispapier festgehalten.
Christina Ohlmer
Olaf Wegewitz (geb. 1949) ist entlang des 51. Breitengrades quer durch Deutschland gewandert und hat diese Reise in vierjähriger Arbeit zu einem Buch mit den gewaltigen Ausmaßen von 2 mal 2 Metern verarbeitet. In Mischtechnik auf Japanpapier zeigt jede Seite eine malerische abstrahierte Landschaft als Extrakt der Erinnerung.
Olaf Wegewitz
Hartmut Stockter (geb. 1973) zeigt an der Holzskulptur eines Kopfes einen „Windrichtungsanzeiger“ (Kupfer, Messing, Zahnräder, Fernglas) sowie einen Linolschnitt, gedruckt von einer Walze, auf die die geschnittene Linolplatte montiert ist – gleichsam ein großes Rollsiegel. Angesichts der langen Bahn von Grasbüscheln und Pflanzen wird die Redensart „auf der Walz sein“ unmittelbar anschaulich.
Hartmut Stockter
„Schau, ein Stein, ein Ameisenhaufen, ein Pilz, ein Taschentuch…“ ruft Chris Hunter (geb. 1983) auf den Bildern seiner „Guided Tour“ und hat dazu seine linke Hand fotografiert, die mit einem Stock auf den jeweiligen ganz banalen Gegenstand zeigt wie auf eine sensationelle Entdeckung. Jovana Popic wiederum hat sich als Reisende im Flugzeug Gedanken gemacht über die Analogie zwischen den Falten einer Papierserviette (Pigmentdruck) und den Auffaltungen und Gebirgen des nordamerikanischen Kontinents, über den sie gerade flog (Relief aus Harz, Pigment, Metall).
Eine reiche, vielfältige Ausstellung, in der es viel zu entdecken gibt – gute Reise! (Bis 30.8., Allgemeiner Konsumverein, Hinter Liebfrauen 2, Öffnungszeiten: Do 18.00 – 22.00 Uhr, Sa und So 14.00 – 18.00 Uhr)
Esther Ernst, Buch „Kairo“