Regine Nahrwold am 1. Juni 2021
Ausstellung „made by us“ von S. Kaneko und R. Welz im Kunstverein Wolfenbüttel
Radioaktivität? Kurz nach den Jahrestagen der Nuklearkatastrophen von Fukushima (11. März 2011) und Tschernobyl (26. April 1986) sowie mit lecken Atommüllfässern in der Asse vor der Haustür schießen einem sogleich die grausigsten Bilder durch den Kopf. Atomkraft? Nein danke, aufpASSEn!
Wie ganz anders ist da doch die künstlerische Herangehensweise von Saori Kaneko (geb. 1976 in Tokio) und Richard Welz (geb. 1989 in Wittenberg). Im Kunstverein Wolfenbüttel stellen sie zur Zeit ihr Projekt „made by us – Radioaktivität in Japan und Deutschland“ vor. Aufgewachsen in Japan und in der DDR, wo in großem Umfang Uran abgebaut wurde, habe beide einen besonderen Bezug zur Problematik radioaktiver Strahlung. Kennengelernt haben sie sich beim Studium der Freien Kunst an der Bauhaus Universität in Weimar, wo sie auch in das interdisziplinäre Arbeiten hineinwuchsen. „Made by us“ ist ursprünglich ihre gemeinsame Diplomarbeit, ein künstlerisch-wissenschaftliches „work in progress“, das um immer neue Werke bereichert wird. Zur Zeit umfasst es 11 fotografische, filmische, auditive, installative und druckgrafische Arbeiten, von denen 9 in der Ausstellung zu sehen und zu hören sind – hochästhetische Bilder und Artefakte in perfekter Präsentation, jedes von ihnen ein komplexes Zusammenspiel von Thema, Bildgegenstand und künstlerischer Technik.
„Hyperreale Flora – Ambivalenza“ ist eine 3 Meter hohe Fototapete, eine Reproduktion. Das Original besteht aus 5 Handabzügen im Glasklischeedruck (Clichè verre), den im 19. Jahrhundert die Landschaftsmaler von Barbizon besonders schätzen. Die 5 einzelnen Blätter sind photographisch erstellte Abzüge von 3 Meter hohen Handzeichnungen. Sie zeigen fiktive Landschaftsformationen von Bäumen und Buschwerk, in denen Motive der Renaturierung in Fukushima kombiniert wurden mit den Halden aus radioaktivem Müll um Ronneburg in Thüringen. Diesem Prozess der Transformation auf der inhaltlichen Ebene entspricht formal die Technik des Clichè verre, das Umkopieren einer Zeichnung auf Fotopapier.
Das große Querformat „Horizont“ besticht durch das sanfte „Berliner Blau“, in dem sich weiß das Motiv abzeichnet, Pflanzen einer Feuchtwiese bei Oberhof im Thüringer Wald. Diese Region weist eine erhöhte natürliche Radioaktivität auf. „Horizont“ ist eine Cyanotypie, ein frühes fotografisches Verfahren, bei dem die Belichtung durch Sonneneinstrahlung erfolgt und das Motiv als Fotogramm hell ausgespart wird. Die Lösung, mit der der Bildträger, Papier oder Stoff, fotosensibilisiert wird, kann auch als Gegenmittel bei Vergiftungen mit radioaktivem Cäsium oder Thallium eingesetzt werden.
In einem völlig verdunkelten Raum liegt auf dem Boden ein Tableau von Schwarzweiß-Fotografien, Handabzügen auf Barytpapier. Es sind Aufnahmen von Landschaften in Thüringen und Fukushima, auf die mit phosphoreszierender Farbe Siebdrucke aufgebracht wurden. Diese zeichnen insbesondere den Luftraum nach, durch den sich radioaktive Strahlung schnell verbreitet. Das Tableau wird mit UV-Licht bestrahlt. Wenn es erlischt, leuchten die Siebdrucke in der Dunkelheit grünlich nach, ebenso eine Serie feiner Siebdrucke von einzelnen Kirschblüten an der Wand. Anhand der Mutationen dieses traditionellen japanischen Symbols können Wissenschaftler heute die Einwirkung radioaktiver Strahlung erfassen.
Noch mehr gibt es zu entdecken. Jede Arbeit besticht durch Schönheit und Perfektion. So unglaublich schön ist das, dass man sich fragt, wo eigentlich die Schrecken der zerstörerischen Seite von Radioaktivität bleiben. Aber vielleicht kommen die ja irgendwann auch noch dran. (Bis 13. Juni, Kunstverein Wolfenbüttel, Reichsstraße 1, 38300 Wolfenbüttel, Öffnungszeiten: Mi bis Fr 16–18 Uhr, Sa und So 11–13 Uhr)