Regine Nahrwold am 15. Juni 2021
Ausstellung „Thomas Wöhrmann und Susanne Reimnitz. Malerei und Zeichnung“ in der Halle Arndtstraße 5
8000 Quadratmeter misst die Halle Arndtstraße 5, eine Industriehalle aus den 1930iger Jahren, an der Hugo Luther-Straße gelegen. Ein Areal von gut 1000 Quadratmetern haben die Besitzer der Halle, die Sponsoren Roland und Daniela Bohlmann, nun dem Künstlerehepaar Susanne Reimnitz und Thomas Wöhrmann für eine Ausstellung zur Verfügung gestellt. Vom 17. bis zum 20. Juni zeigen sie dort Malerei und Zeichnung, sowie die drei großen Collagen, die im Zuge der Aktion „Kunst lässt Leerstand leuchten“ auf Initiative des Allgemeinen Konsumvereins Braunschweig entstanden sind. Die Verbindung der Halle mit ihrer ganz speziellen Industriepoesie und den ungegenständlichen, farbigen Bildwelten der beiden Künstler funktioniert bestens, und die Sonne dieser hellsten Tage im Jahr setzt der Kombination noch ein ganz besonderes Glanzlicht auf.
Auf den ersten Blick erscheinen die Werke von Reimnitz und Wöhrmann ähnlich, zumindest sehr verwandt. In den Arbeiten beider ist die Farbe das wesentliche Element, es geht um Farbflächen und -formen, die sich begegnen und abgrenzen, überlappen, einander überlagern und durchscheinen lassen. Doch auf den zweiten, genaueren Blick treten die Unterschiede stärker hervor. Dass er mit Acryl auf Leinwand und auch Papier arbeitet, sie dagegen überwiegend mit Acryl auf Papier und manchmal auf Sperrholz, ist nur der kleinste.
Reimnitz malt auf Papier, weil dies schnell zur Hand ist und keiner langwierigeren Vorbereitungen bedarf. Sie grundiert zunächst die Papierbögen, von denen sie über einen längeren Zeitraum immer mehrere parallel in Arbeit hat; manchmal nimmt sie auch ältere Blätter wieder vor, überarbeitet sie oder benutzt sie – wenn sie ihr nicht länger bewahrenswert erscheinen – als Malgrund für ein neues Bild. So sind ihre Bilder Palimpseste, in denen eine Schicht über der anderen liegt, jede ein Sediment, das die Spuren einer anderen Zeit bewahrt. Jedes Bild ist schlussendlich ein Farbkörper, zumindest eine Farbhaut – ledrig, lappig, schrundig und zäh.
Im Pinselstrich bleibt der Gestus der malenden Hand erhalten, alles wirkt bewegt und als „work in progress“ in einem ständigen Werden begriffen. Manchmal ist die Farbmaterie aquarellartig leicht, zart und flüssig, manchmal dick und pastos aufgetragen. Tiefenraum eröffnet sich, Grün und Blau befinden sich ganz hinten, einzelne Punkte oder Ovale in Gelb, Orange oder Rosa schweben weit vorne. Manchmal überlagert ein gitterartiges Lineament, das an einen Stadtplan oder Grundriss erinnert, die Farbflächen und bringt Struktur hinein. Oft werden Teile des Bildes mit Weiß übermalt, wobei andere Partien als Negativform ausgespart bleiben. Durch die Bewegung der Farben und Linien, durch Farbmischungen und unscharfe Begrenzungen der Farbflächen entsteht der Eindruck von Dynamik, Spontaneität, Tempo und von dem, was in der alten Malerei „sprezzatura“ (Lässigkeit) heißt. Schlussendlich erzeugt das Gleichgewicht aller Bildelemente zueinander eine lebendige Spannung, eine schwebende Leichtigkeit, die gleichwohl immer voller „Power“ ist.
Wöhrmanns Gemälde sind zumeist – ganz klassisch – mit Öl oder Acryl auf Leinwand gemalt. Gegenüber den spannungsvoll-dynamischen von Susanne Reimnitz wirken sie klar, rational, ruhig, harmonisch und streng konzipiert. Reimnitz‘ Bilder werden, unablässig – Wöhrmanns Bilder sind da, immer schon. Er ist ein Bau-Meister seiner Bilder, ein Meister des Durchlichtens und des Übereinanderschichtens von Farbe, von denen die jeweils obere die untere durchscheinen lässt. Auch seine Bilder verkörpern einen Schwebezustand, den Kairos, die Balance von Formen auf einer Farbfläche, von Kontrast, Teilung und Verbindung, und von malerischen und grafischen Mitteln. Pinselstriche und Spachtelspuren modellieren das Farbrelief, addieren sich zur Fläche und modulieren eine Farbe in feinen Nuancen durch.
So etwa in einem Bild mit grünen, blauen und blaugrünen Rechtecken, in sich streifig und mit unterschiedlich hellen und dunklen Tönen; weiß schneiden drei scharf umrissene Ovale da hinein wie Suchscheinwerfer in die Nacht. Der Maler arbeitet sich an formalen Gesetzmäßigkeiten ab, diese oft in Serien variierend, bis sich aus dieser Arbeit ein neues künstlerisches Thema herauskristallisiert. Noch immer gilt, was die Karin Stempel, Rektorin der Kunsthochschule Kassel, Wöhrmann 1992 in einen Katalogtext hineinschrieb: „Ungewissheit ist das Territorium dieser Bilder, schwankend ist ihr Grund, verlockend ihre Deutung, verführerisch ihr Wesen. Man betritt Neuland, das es zu erforschen gilt – ohne Kompass und ohne Wissen um die unbestimmten Koordinaten eines verborgenen Systems.“ (Öffnungszeiten: Do und Fr 16-20 Uhr, Sa 10-13 und 16-20 Uhr, So 10-13 Uhr.)