Regine Nahrwold am 31. Juli 2021
Ausstellung „Wir singen ohne Callas im Regen“ im Allgemeinen Konsumverein Braunschweig
WIR SINGEN OHNE CALLAS IM REGEN. Wer hätte gedacht, dass hinter diesem Titel der neuen Ausstellung „Allgemeiner Konsumverein Braunschweig“ steckt, und zwar nicht nur als Veranstalter, sondern im wörtlichen, vielmehr: im buchstäblichen Sinne? Die Lettern des Namens wurden einmal kräftig durchgeschüttelt und bilden nun als Anagramm diese neue Phrase. Schöpfer des Anagramms ist Kuno O., ein langjähriger Besucher der Ausstellungen des Kunstvereins, der in diesem Jahr 20 Jahre alt wird.
Kurz vor dem Jubiläum nahm Kuno O., seit der Corona-Pandemie auf geheimnisvolle Weise in Neu-Guinea verschollen, Kontakt zum Ausstellungs- und Filmemacher Hans Peter Litscher (Luzern/Paris) auf. Diesen beauftragte er damit, eine Ausstellung zu realisieren, die er eigens zum Geburtstag des Kunstvereins konzipiert hatte, und schickte ihm 14 Kisten voller Materialien. Dabei zeigte sich: Kuno O. – er wohnte übrigens mit seiner Mutter Erna in unmittelbarer Nachbarschaft des Allgemeinen Konsumvereins -, hat über die 20 Jahre hinweg dessen Aktivitäten sehr genau verfolgt. Ja, sogar mit den Anfängen, als der Konsumverein wirklich noch ein solcher war und die Arbeiterfrauen dort günstig einkaufen konnten, war Kuno O. biografisch verbandelt: sein Vater Fritz betrieb einst die Fleischerei des Konsums und Mutter Erna hatte dort jahrelang als Fachverkäuferin für Fleisch- und Wurstwaren gearbeitet. Auch Kuno sollte dieses Handwerk erlernen, brach jedoch schon bald die Lehre ab und sattelte auf Tischler um. Holz als Werkstoff lag ihm einfach mehr als Fleisch und Blut. Und so bilden 14 alte Tische im Ausstellungsraum eine strenge Formation. Auf jedem Tisch sind angeordnet ein jeweils anderes Anagramm, Fotos vergangener Ausstellungen und Veranstaltungen des Kunstvereins, etwa von einem Abend mit dem berühmt-berüchtigten „Schwätzer“ Bazon Brock. Dazu kommen persönliche Erinnerungsgegenstände von Kuno O.: Bücher, Notizzettel, Werkzeuge, Schreibgeräte, Spielzeug, Sammelfigürchen… Jeder Tisch bietet ein Kaleidoskop von Dingen; deren Bezüge lassen einen Bedeutungshorizont erahnen, der sowohl mit Kunos Biografie als auch mit der Geschichte des Konsumvereins zu tun hat. Dabei zeigt sich, dass…
… der geheimnisvolle Besucher weit gespannte Interessen hat und erstaunlich gebildet ist. So brachte ihm etwa eine Schwester seiner Mutter – sie stammte aus dem Elsass – Französisch bei, so dass er Guy Debord, den Vordenker der französischen Studentenbewegung, im Original lesen konnte. Auch eine Reproduktion des „Codex Atlanticus“ von Leonardo da Vinci und die Emblemata aus der Kirche des Ritterguts in Lucklum fanden sich in Kunos Hinterlassenschaften und bereichern nun als Exponate die Schau. Deren Spitzenreiter ist in einem kleinen Chambre separée die Wurstmaschine von Erna O. nebst Fotos des Aktionskünstler Otto Muehl, dessen Schweine-Schlachtung an der HBK Braunschweig 1969 eine Skandal heraufbeschwor. Das Schwein starb übrigens fachgerecht unter dem Messer von Kunos Bruder, dem Fleischer Winfried O.
Für Hans Peter Litscher blieb bei dieser Ausstellung nicht viel Spielraum für eigene Ideen, er hat „nur“ die präzisen Anweisungen von Kuno O. werkgetreu umgesetzt. Raffiniert! (Bis 22.8., Allgemeiner Konsumverein, Hinter Liebfrauen 2, Öffnungszeiten: Do 18.00 – 22.00 Uhr, Sa und So 14.00 – 18.00 Uhr. Termine für Führungen durch H.P. Litscher auf https://www.konsumverein.de)