Regine Nahrwold am 7. August 2021
Ausstellung „Soft Capsules“ im Kunstverein Braunschweig
Wie die Hälfte einer riesigen Muschel, zugleich eine Schale, schwebt die organische Form aus Pappmachée als Entrée im Foyer des „Salve Hospes“. Das Äußere ist aschgrau, das Innere leuchtet in warmem Orange. Geschaffen wurde „Vulcano Shell“ von Katharina Juliane Kühne, einer von 18 MeisterschülerInnen der HBK Braunschweig, die nun zum Abschluss ihres Meisterjahres im Kunstverein ihre Arbeiten präsentieren. Schon die mediale Vielfalt ist enorm und reicht von Malerei Skulptur und Zeichnung über Foto und Film bis zur Performance. „Aber es gibt auch verbindende Themen“, so Kurator Sebastian Schneider, „zum Beispiel die sinnliche Erfahrung von Natur als Stimulanz für das Kunstschaffen.“
Die Natur ist, in sehr konträrer Weise, etwa Sonja Doberauer und Malte Taffner zum Thema geworden. Doberauer verbindet in ihrer Video- und Soundinstallation „Ellipse“ Bilder verschiedener Aggregatzustände von Wasser mit Naturklängen und schafft damit eine Art von Sphärenharmonie. Taffner dagegen geht es in „BIOSHELL CRX3“ eher um die Instrumentalisierung der Natur durch künstliche Systeme, wo Pflanzen mit hohem technischem Aufwand wachsen und gedeihen. Utopie oder Dystopie? Das ist hier die Frage.
Die Malerei ist durch Jonas Nölke und Stella Oh vertreten. Nölke zeigt sein Bildpaar „Saussure I und II“. Die orange-roten Farbspuren, auf dem einen Bild weitgehend von weißer Farbe überdeckt, brechen sich auf dem anderen in schlingernden Verläufen Bahn. Das ist höchst sensibler Umgang mit der Farbe. Stella Ohs großes (280 x 400 cm) Gemälde „Zarter Vogel im Dickicht der Decken“ lehnt im Spiegelsaal an der Wand. In lasierenden, transparenten Farbschichten überlagern sich die wirbelnden Farbformen und -linien, verdichten sich in dunklen Tönen und lockern zu den Rändern hell auf. Üppige, sinnliche Malerei, ein beglückender Rausch der Farben. Lena Schmidt-Topou zeigt zehn kugelige, bunte Glasobjekte, angeordnet auf einer weißen Fläche; das einfallende Licht malt farbige Schatten auf das Weiß – eine wunderbare Verbindung von Skulptur und Malerei.
Puristisch, streng und schön wirkt „Soft Capsules“ der Koreanerin Jung Min Lee, 18 urnenähnliche Dosen aus Kupfer, auf Regalbrettern aufgereiht. Das Original, das diese Auflagenobjekte reproduzieren, ist…
…das einzige erhaltene Werk ihrer Mutter, die ebenfalls Künstlerin war. Nach Ende der Ausstellung, deren Titel „Soft Capsules“ Lee für ihre Arbeit übernommen hat, wird sie die Dosen an ihre KollegInnen verschenken. Ein Nachdenken über Tradition, Dauer, Vermächtnis und Zukunft hat hier eine sehr persönliche Form angenommen.
Ähnlich minimalistisch ist die Arbeit von Andreas Linke, der die große Wand des Flurs im Obergeschoss komplett mit verschiedenfarbigen, monochromen Tafeln im gleichen Format gefüllt hat. Zwar kennt man solche Reduktion der Malerei auf die Bildfläche zu Genüge aus der Moderne, doch die Wirkung des Tableaus an diesem Ort ist stark.
Höchst originell ist die Arbeit von Martin Lucas Schulze. Er hat einen 3D-Drucker entwickelt, der glitzende Wasserperlen druckt. An den umgebenden Wänden hängen Tableaus von Notizen, Berechnungen, Konstruktionszeichnungen und Skizzen, die vom Entstehungsprozess und vom Forschergeist dieses Künstlers Zeugnis ablegen.
Mehrere KünstlerInnen asiatischer Herkunft haben sich mit den Themen Migration, (familiäre) Herkunft und dem Leben zwischen zwei Kontinenten befasst. Mit einem blauen Panoramafries und einem kunstvollen Video schlägt etwa die Koreanerin Zoyeon eine Brücke von Henrik Hamel, einem holländischen Seefahrer, der 1653 in Korea strandete und dort 13 Jahre lang lebte, zu ihrer Lage als Asiatin in Europa. Younghee Shin hat einen Film über ihre Großmutter gemacht, die ihr stets fremd geblieben ist; sie hat sie mit der Kamera bei der Küchenarbeit beobachtet – ein ganz unsentimentaler und gerade darum sehr beeindruckender Versuch der Annäherung. Simiao Yu hat im Spiegelsaal ein fragiles Gerüst aus Stäben errichtet, über denen Ausdrucke von Fotos hängen; sie zeigen einerseits Wolkenbilder aus der Kunstgeschichte, andererseits die Künstlerin und ihre Geschwister als Kinder. Der Gedanke dahinter: So wie wir in die flüchtigen, bewegten Wolken Gestalten hineinsehen und sie damit in eine feste Form pressen, so schreiben wir auch oft Menschen aufgrund ihrer Herkunft und ihres Aussehens bestimmte Eigenschaften zu.
Eine abwechslungsreiche und spannende Schau, bei der es sich lohnt, auch die Werke zu entdecken, die hier leider nicht besprochen werden konnten! (Bis 29.8., Kunstverein Braunschweig, Lessingplatz 12, Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag, 11-17 Uhr, Donnerstag 11-20 Uhr. Kostenlose Führungen jeden Sonntag um 15 Uhr und jeden Donnerstag um 18 Uhr.)